Matt Healy: Poetischer Tänzer am Abgrund

Sie sind Kometen am Musikhimmel: Die Jungs der Band The 1975. Ihr Sänger Matt Healy schreckt vor nichts zurück – seien das nun Drogen oder Skandale.

DISPLAY sprach mit dem bisexuellen «Matty» Healy, 31, über seine Visionen, seine Vorbilder und einen gefährlichen Kuss in Dubai.

Interview Steffen Rüth   Bilder Raphael Schmidt, verstaerker.com 

KÜSSENDE MÄNNER UND TOBENDE SITTENWÄCHTER

DISPLAY: Matty, du hast im homophoben Dubai auf offener Bühne einen Jungen geküsst und bist danach mit strengen Religionswächtern aneinandergeraten. Was ist da in dich gefahren? 
Matt Healy: Ich hatte das nicht geplant, doch dann sah ich das Publikum, lauter queere Kids, das war wirklich «Dubai Pride». So etwas hatte ich in dieser Region, in der es keine offene queere Szene gibt und die Leute keine Chance haben, ihre Identität zu leben, nicht erwartet. Ein Junge hielt ein Schild hoch, auf dem stand «Can I Marry You?» Ich wollte ihn umarmen und bat ihn auf die Bühne. Gesagt, getan. Danach fragte er, ob ich ihn küssen möge, und ich sagte «Ja, klar», und so küssten wir uns. Das war ein sinnlicher, schöner Moment zwischen zwei Menschen. 

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Danach wurde es dramatisch.
Die Polizei wollte mich verhaften, es fühlte sich ernst an. Ich meine, ich bin nicht doof, ich wollte kein Ignorant sein und diesen Jungen in Gefahr bringen, und ich verstehe, dass man sich in einem fremden Land an die Gesetze halten muss.

Aber?
Diese Gesetze sind Bullshit, und darauf muss man auch hinweisen dürfen. Zwei Jungs oder zwei Mädchen, die sich küssen, dürfen niemals ungesetzlich sein. Alles andere ist verachtenswert. Und wenn wir eingeladen werden, eine Show zu spielen, dann mache ich das so, wie ich das möchte. Ich bin keine weiche Puppe, die für alle kuschelig ist. Ich kann auch beissen.

Können solche Aktionen positive Veränderungen anstossen?
Nicht von heute auf morgen. Eine Menge Kids haben mich später online kontaktiert und mir geschrieben, wie toll sie den Kuss fanden. Das sind meine Leute. Und nicht irgendwelche undemokratischen Unterdrückerregimes.

The 1975 – verstaerker.com

SONGS ÜBER AKTUELLE PROBLEME

Im Song «The 1975», kommt Greta Thunberg zu Wort. Sie sagt, dass wir die Situation weder unter Kontrolle hätten noch die Lösung kennen. Sie bezieht sich auf die Klimakrise, aber ihre Worte passen auch exakt zur aktuellen Corona-Situation. Wie prophetisch ist die Musik von The 1975?
Das sieht jetzt so aus, als hätten wir alles kommen sehen, aber dem ist nicht so. Wir sind keine Propheten. Wir sind vielleicht eher Seismographen. Wir greifen auf, was in der Gesellschaft los ist, und Umweltschutz ist eine zentrale Sorge unserer Generation. Corona ist jetzt nur die extreme Ausprägung von Entwicklungen, die schon länger über uns gehangen haben. Nicht erst seit der Pandemie fühlen sich viele von uns von der Welt abgeschnitten, ja einsam. Und diese Dinge wie Geld und unser kapitalistisches Wirtschaftssystem, das nun den Bach runtergeht, sind einfach Konzepte, auf die wir uns geeinigt haben. Doch natürlich liesse sich eine Gesellschaft auch auf anderen Säulen aufbauen.

Du glaubst nicht daran, dass wir möglichst schnell zu der Welt vor Corona zurückkehren sollten?
Der Normalzustand, den alle wieder erreichen wollen, ist eine Illusion. Denn dieses «normal» ist für jeden Menschen anders. Das Leben geht weiter, das tut es ja immer, aber viele Leute, die ich kenne, bewerten gerade neu, ob sie glücklich sind mit dem, was sie tun. Einige haben ihr Leben bereits verändert. Der Jugendkultur, der Kunst, der Technologie stehen spannende Zeiten bevor. Büros werden zum Beispiel gerade unwichtig. Wir kommunizieren heute schon ganz anders im Internet als noch vor drei Monaten, fast alle von uns sind warm geworden mit Apps und Programmen, die wir vorher oft kaum beachtet haben. Das wird so weitergehen. Das Internet wird einen Satz nach vorne machen. Virtual Reality wird expandieren, das Netz könnte wieder ein Ort werden, an dem Utopien verwirklicht werden. 

The 1975 – verstaerker.com

MUSIK MIT EINER MESSAGE

Jetzt entwickelst du doch wieder Visionen. Genau wie in euren Songs, in denen es oft um zukünftige Lebenswelten und Beziehungsformen geht. Wirklich keine Propheten?
Wir machen Musik für die heutige Zeit. Vielleicht wirken unsere Lieder deshalb aktuell, weil ich darin über meine Ängste spreche. Diese Ängste ähneln nun einmal den Ängsten vieler anderer Menschen. Gerade im neuen Album steckt viel Unsicherheit, Furcht. Es passiert immer wieder, dass wir ein Thema aufgreifen und sich wenig später die ganze Gesellschaft damit befasst. Für mich ist es das Wesen der Kunst, darüber zu sprechen, was in der Welt los ist. David Bowie hat mir viel mehr über die Welt beigebracht als jeder Politiker. Oder Prince. Ich hörte «Sign O’The Times», das unter anderem von Aids handelt, und dachte «Verdammt, so war es also, Ende der 80er zu leben». Musik war für mich immer erhellend. Gute Musik leistet viel mehr als nur Krach, Aggression und Eskapismus. Sie soll mehr als nur Spass machen. Diesem Grundsatz fühle ich mich mit The 1975 verpflichtet.

Was hast du von David Bowie gelernt?
Die Kunst der Selbstdarstellung. Bowie war ein Alien für mich. Ich liebte ihn. Michael Jackson genauso. Mein Vater ist Schauspieler, sein Freundeskreis besteht aus einem Mix aus Bohemians und Leuten aus der Arbeiterklasse, mit denen er aufwuchs. Sie lästerten immer zusammen über Jackson, als ich klein war, sie hielten ihn für einen Freak von einem anderen Planeten, und ich dachte damals schon «Ich fühle mich Michael deutlich näher als euch.» Ich verstand seinen religiösen Eifer, herausragende Kunst zu schaffen.

The 1975 – verstaerker.com

DIE FEINDE: RELIGIONSFANATIKER UND TRUMPISTEN

Um welche Aspekte geht es in «Jesus Christ 2005 God Bless America»?
Ums Unterdrücken von Sehnsüchten im Namen der Religion, speziell in Amerika. Den Text habe ich auf Zigarrenschachteln geschrieben, als wir auf Tour in den USA waren. Ich bin antireligiös, aber bin in dieser Frage entspannter geworden. Ich sehe dogmatische Religiosität nur noch auf Platz 3 der Menschheitsbedrohungen – hinter der Klimakatastrophe und dem Trumpismus, also der Leugnung von Logik und Fakten als politisches Konzept.

Bist du für die heutigen Jungen, was für dich damals Bowie und Prince waren?
Das würde zu sehr an meinem Ego herumspielen, wenn ich erwägen würde, ich wäre mit diesen Ikonen auf einem Level. Aber ich komme wohl in ein Alter und wachse in eine Rolle hinein, wo Kids zu mir sagen «Du bist eine verdammte Legende für mich». Aber etwas unangenehm ist es mir trotzdem. Nicht zuletzt deshalb, weil ich mich selbst noch eher wie ein Jugendlicher fühle. 

Ihr habt die Band als Teenies gegründet. Überrascht euch noch etwas aneinander?
Nein, nichts. Wenn du 17 Jahre zusammen bist, dann kennst du die anderen wie den Inhalt deiner Hosentaschen. Wir vier in der Band sind wie Brüder.

Ist «Guys» ein Song über euch? 
Zu hundert Prozent. Es gibt nicht viele Liebeslieder über platonische Beziehungen, aber dieses ist eins. Der Song dreht sich indes nicht ausschliesslich um uns, sondern feiert die freundschaftliche Liebe als solche.

Macht ihr das mit Absicht, dass ein Uptempo-Stück wie «Frail State Of Mind» so einen traurigen Text hat?
Ja. Das ist die definierendste Qualität eines 1975-Songs überhaupt. Wenn sich ein Song von uns happy anhört, dann sind die Worte depressiv. Und bei einem Stück, das depressiv klingt, ist der Text, naja, meistens auch depressiv.

Für wie glücklich oder unglücklich hältst du dich?
Ich halte nicht viel vom Glücklichsein als Lebensziel. Es ist doch ein Teil der menschlichen Erfahrung, nicht glücklich zu sein. Die Leute machen sich diesbezüglich viel zu sehr verrückt. Ich bin glücklich damit, soweit zufrieden zu sein.

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