Die Beschneidung des Mannes scheidet die Geister: Krasse Körperverletzung oder religiöses Ritual? DISPLAY greift das Tabuthema auf.
Beschneidungen können zwar die Hygiene erleichtern und sind hilfreich, wenn die Vorhaut zu eng ist. Viele halten sie jedoch für unnötig und einen Einschnitt in das Recht des Mannes auf Selbstbestimmung. Zwei Beschnittene erzählen über ihre Erfahrungen.
Text Marcel Friedli-Schwarz
Dunkle Haare und einen dunklen Teint hat der 40-jährige Stefan Staudacher. Auf den ersten Blick würde man bei ihm auf einen Araber oder Israeli tippen – und vermuten, er sei aus kulturellen, religiösen Gründen beschnitten.
Doch Stefan hat zwar italienische Wurzeln, ist aber Schweizer und dass er beschnitten ist, hat einen medizinischen Grund – seine Vorhaut war zu eng. Es juckte, er hatte Schmerzen, weil es immer wieder zu Rissen in seiner Vorhaut kam. «Ich war geschockt, als ich Blut in meiner Unterhose bemerkte.»
Darum wurde Stefan beschnitten, als er sieben Jahre alt war. Seine Eltern erklärten ihm, dass es Erleichterung für ihn gibt, wenn ihm die Vorhaut entfernt wird. «Für mich war klar, dass ich diesen Eingriff wollte», sagt Stefan.
Vom Eingriff selbst merkte er nichts. Geblieben ist die Narbe, die noch heute davon zeugt. «Der Chirurg hat sorgfältig gearbeitet, es sieht schön aus.» Eine Woche lang hatte Stefan Schmerzen, seine Eichel reagierte empfindlich auf jegliche Berührung. «Unmittelbar danach verursachte mir die Wunde eine Woche lang Schmerzen, dann verschwanden sie. Ich fühle mich sehr wohl so. Es ist praktisch, zum Beispiel beim Duschen.»
ZEICHEN EINER VERLETZUNG
Auch Ephraim Seidenberg ist beschnitten. Doch er verbindet damit keine positiven Gefühle, denn er sagt: «Mir fehlt ein Teil meines Körpers.» Er ist an seinem achten Lebenstag beschnitten worden. Wie es in der jüdischen Tradition vorgesehen ist, die davon ausgeht, damit ein Gebot Gottes zu befolgen. Denn: Die Beschneidung gilt in diesem Kontext als Ritual, mit dem man in die religiöse Gemeinschaft aufgenommen wird.
Doch den 29-jährigen Ephraim erfüllt dieses Ritual nicht mit Stolz, sondern mit Schmerz. Wie ein Mahnmal an etwas, an das er sich jedoch nicht bewusst erinnern kann, hat er um sein Glied eine Narbe. «Ein deutliches Zeichen, dass eine Verletzung stattgefunden hat.»
Ephraim findet es nicht richtig, dass ihm ein gesunder Teil seines Körpers weggeschnitten worden ist, wie er sagt. «Mir fehlen damit spezifische Körperfunktionen; zudem entfällt ein Teil meiner Wahrnehmung.» Denn die Vorhaut, die auf der Innenseite aus Schleimhaut sowie aus Muskeln besteht, enthält tausende Nervenzellen, die vielfältige Empfindungen ermöglichen.
Doch nicht nur das: Ephraim realisierte mehr und mehr, was es für ihn bedeutet, dass dies mit ihm gemacht wurde, ohne dass er gefragt worden ist. Es löste in ihm eine emotionale Lawine an Enttäuschung, Trauer und Verlustgefühlen aus. Die Beschneidung ist ein Einschnitt in seine Persönlichkeit, wie er sagt: «Dass mir ohne mein Einverständnis etwas – meine Vorhaut – weggenommen worden ist, verunsichert mich als Person.»
MANCHMAL MEDIZINISCH ANGEZEIGT
Wie vor etlichen Jahren Ephraim und Stefan geht es jedes Jahr in der Schweiz rund dreitausend Buben, deren Vorhaut vom Penis abgetrennt wird. Nebst diesen Eingriffen in Spitälern, die statistisch erfasst werden, kommt es zu Operationen bei Hausärzten; die Dunkelziffer erhöht sich mit all jenen Beschneidungen, die wild durchgeführt werden.
Doch Beschneidung ist nicht gleich Beschneidung – manchmal ist sie wie bei Stefan medizinisch angezeigt: wenn die Vorhaut zu eng ist. Bei rund einem Prozent der Männer ist dies der Fall. Dieses Problem könnte man allerdings auch mit speziellen Cremen lösen, betont Beschneidungsgegner Ephraim.
Für eine Beschneidung kann auch sprechen, dass sich dann keine Keime unter der Vorhaut ablagern. Doch für diesen hartnäckigen Mythos gibt es keine wissenschaftliche Quelle: Wäscht man sein Glied regelmässig, hat man die Hygiene auch ohne Beschneidung gut im Griff. Ob die Beschneidung beim Sex Vorteile bringt, ist umstritten: Während die einen es schätzen, dass sie länger können, bis sie kommen, weil die Eichel unempfindlicher ist, beklagen die anderen gerade den Verlust der sensiblen Nervenenden in der Vorhaut.
Oft verlieren Buben ihre Vorhaut – wie Ephraim – aus religiösen Motiven: Im Judentum als Gebot Gottes, das nur aufgeschoben wird, wenn ein Junge schwächlich ist. Im Islam gilt die Beschneidung als wegweisende Tat Mohammeds.
Selbstbestimmung
Dass Knaben beschnitten werden, ohne gefragt zu werden, daran stört sich Ephraim. Darum macht er auf die Beschneidung von Männern und die Wichtigkeit der Vorhaut aufmerksam, dies auch im Hinblick auf den Welttag der genitalen Selbstbestimmung vom 7. Mai. Denn: «Jeder Mann soll das Recht haben, selber darüber zu bestimmen, ob er beschnitten werden will oder nicht.»
Beschneidung war die Regel
Früher wurde die Beschneidung propagiert, um dem Onanieren Anreize zu nehmen. In den USA förderte der fanatisch religiöse John Harvey Kellogg (der Erfinder der Corn Flakes) die Beschneidung, weil dadurch die Eichel unempfindlicher werde und der Reiz der Selbstbefriedigung abnehme. Seine Forderung hatte grosse Folgen: Die Beschneidung der Babys wurde in den USA zur Routine. Bis heute ist die Mehrheit der US-amerikanischen Männer beschnitten, in Bundesstaaten wie Iowa sind es 80 Prozent.
«Hygiene an der Eichel ist wichtig»
Wird das Thema Beschneidung häufig angeschnitten? Vinicio Albani, der als Dr. Gay arbeitet, weiss dies aus erster Hand.
DISPLAY: Vinicio, wie häufig kommt das Thema Beschneidung in den Beratungen bei Dr. Gay vor?
Vinicio Albani: Eher selten. Meist wird das Thema beiläufig angeschnitten, wenn es um den Schutz vor HIV geht. Eine Beschneidung taugt jedoch nicht als Schutz. Obwohl es statistisch eventuell zu weniger HIV-Infektionen kommt, senkt dies das Risiko beim Sex nur theoretisch.
Und praktisch?
Analsex ohne Schutz birgt ein hohes Risiko und ist Hauptübertragungsweg von HIV. Ob beschnitten oder nicht, aktiv oder passiv, ob abgespritzt wird oder nicht: Das ist nicht massgeblich relevant.
Was spricht für eine Beschneidung?
Die Argumente dafür und dagegen sind individuell. Eine Beschneidung kann hygienische, medizinische oder religiöse Gründe haben. Die einen finden es sexuell attraktiver, wenn jemand beschnitten ist – die anderen wiederum nicht.
Wenn man sich dafür entscheidet – was heisst das?
Man muss sich bewusst sein, dass der Schritt endgültig ist: Eine Beschneidung kann nicht rückgängig gemacht werden.
Ist man beschnitten, muss man sich jedoch weniger um den hygienischen Aspekt kümmern.
Ob beschnitten oder nicht: Die Hygiene an der Eichel ist sowieso wichtig. Täglich mit Wasser – nicht mit aggressiver Seife – gut waschen. Wer nicht beschnitten ist, zieht die Vorhaut beim Reinigen ganz zurück.
Und inwiefern wirkt sich eine Beschneidung auf das sexuelle Empfinden und auf den Sex aus?
Für manche Beschnittene ist es wichtig, mehr Gleitmittel zu benutzen beim Sex, weil die natürliche Schmiere beeinträchtigt ist. Aber wie sich Sex anfühlt mit oder ohne Beschneidung? Das ist für alle verschieden. Davon allein hängen Freude und Lust am Sex nicht ab. ||
RECHTLICHE GRAUZONE
Buben die gesunde Vorhaut abzuschneiden, gilt wie jede Körperverletzung an Kindern als Offizialdelikt, das die Behörden eigentlich verfolgen müssten. Strafanzeigen wurden jedoch bisher mit unterschiedlichen Begründungen abgewiesen.
Aussenstehende wie der Verein Pro Kinderrechte, der mehrere Strafanzeigen eingereicht hat, können die Strafverfolgung nicht erzwingen, denn diese Möglichkeit haben nur direkt Betroffene. Doch: Kaum ein Sohn zeigt seine Eltern an.
Vor neun Jahren entschied das Kölner Landgericht, dass Ärzte keine Beschneidungen durchführen dürfen, die nicht medizinisch notwendig sind. Dies hatte kurze Zeit Einfluss auf die Schweiz, verflüchtigte sich dann jedoch wieder.
Verschiedene Juristen vertreten die Ansicht, dass das Beschneiden von Buben auch in der Schweiz verboten ist. Das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte stellt in einem Positionspapier fest, dass «eine gewisse Rechtsunsicherheit» besteht.
Anders ist die Rechtslage bei Mädchen: Sie zu beschneiden, ist in der Schweiz über ein eigenes Gesetz verboten und gilt als Eingriff in das Recht auf Selbstbestimmung und als schwere Körperverletzung.