Schweiz: Die Gewalt nimmt zu

Traurig, aber wahr: Die Gewalt in der Schweiz wächst, sowohl allgemein als auch in Form von Hate Crimes gegen die LGBTIQ+-Community. DISPLAY hat sich die Zahlen genauer angesehen und recherchiert, was die Polizei dagegen macht. Zudem haben wir uns mit dem Geschäftsführer von Pink Cross über Hate Crimes und seine Forderungen an die Politik und Polizei unterhalten.

Text Mathias Steger Illustrationen Zakaria Battikh

Im April kommt es zu einem schweren Angriff in der Basler Innenstadt, bei dem ein Mann lebensgefährlich verletzt wird. Im Mai wird in Männedorf (ZH) eine Joggerin von einem nackten Angreifer getötet…

Fälle wie diese sind in der Schweiz keine Seltenheit mehr. Das belegen die Zahlen. Im Jahr 2023 kam es laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) in der Schweiz zu mehr als 522’000 Straftaten gemäss Strafgesetzbuch. Dies entspricht einem Anstieg von 14 % gegenüber dem Jahr zuvor. Besonders bedenklich ist die Zunahme bei Diebstahl und Betrug (+ 17 %), bei Einbrüchen (+ 16%) sowie bei digitaler Kriminalität, wo die Polizei einen Anstieg von mehr als 30 % verzeichnet. Aber es kam auch zu 6 % mehr Gewaltstraftaten und elf Tötungsdelikten mehr als im Jahr 2022. 

Noch ein Detail zum Thema Drogen: Laut der Online-Plattform Statista befinden sich sowohl Zürich als auch Genf im Top-10-Ranking jener europäischen Städte, in denen am meisten Kokainrückstände im Abwasser zu finden sind.

Vermehrt schwere Körperverletzungen

Auch im Kanton Zürich nimmt die Gewalt zu. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Anzahl an Gewaltdelikten im Jahr 2023 um 9 % gestiegen, sodass es zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder mehr als 100’000 Verstösse gegen das Strafgesetzbuch gab. Besonders bedenklich ist die Zunahme um etwa ein Viertel bei schweren Körperverletzungen. 

Wer sind die Täterinnen und Täter? Laut BFS sind knapp 45 % aller beschuldigten Personen Schweizer Staatsbürger:innen, während ein knappes Drittel der Straftaten auf die ständige ausländische Wohnbevölkerung in der Schweiz fällt. Der Rest, also rund ein Viertel, betrifft die Asylbevölkerung beziehungsweise Menschen, die nicht in der Schweiz wohnen. Die Kantonspolizei Zürich weist auf die verhältnismässig grosse Gewaltbereitschaft bei Asylwerbenden hin, die abgewiesen worden sind, sowie bei den «Kriminaltourist:innen», die nicht in der Schweiz dauerhaft wohnen. Bei Ausländer:innen, die in der Schweiz leben oder die einen Asylantenstatus in der Schweiz haben, verhalten sich die Zahlen ähnlich wie bei Schweizer:innen, so die Kantonspolizei bei einer Medienkonferenz.

Präventionsmassnahmen

Um die steigende Gewalt zu bekämpfen, hat die Polizei einige Massnahmen vorgesehen. So ist etwa der Kampf gegen Jugendkriminalität ein Schwerpunkt der Kantonspolizei Zürich. Dazu gehören Präventionsmassnahmen wie Kinder- und Jugendinstruktion, die Sicherstellung von Waffen und verstärkte Kontrollen an neu-ralgischen Punkten. Ein weiterer Fokus liegt in der Bekämpfung von Gewalt in der Gruppe der Asylwerbenden und vor allem der abgewiesenen Asylwerbenden mit gezielten Aktionen und Patrouillen. Dabei kommt es vermehrt zu Rückführungen von kriminellen Geflüchteten und Asylwerbenden. Ein weiterer Fokus liegt beim Kampf gegen die Einbruchskriminalität, etwa durch Präventionsarbeit und gross angelegten Kontrollen mit Fokus auf Kriminaltourist:innen. Zudem bekämpft die Polizei vor allem die häusliche Gewalt, etwa durch Kontaktverbote oder Wegweisungen aus Wohnungen. Bleibt zu hoffen, dass die Massnahmen der Polizei greifen werden. 


Roman Heggli, Geschäftsleiter von Pink Cross, über Hate Crimes.

DISPLAY: Roman, was ist die LGBTIQ-Helpline genau und wie hilft diese den Betroffenen?

Roman Heggli: Die LGBTIQ-Helpline ist einerseits die erste Anlaufstelle für alle Fragen und Anliegen zum Thema LGBTIQ. Andererseits dient sie als Meldestelle für LGBTIQ-feindliche Hate Crimes, wie Diskriminierungen, Beschimpfungen oder auch körperliche Gewalt.

Was machen die Mitarbeitenden der Helpline, wenn sich eine betroffene Person aufgrund eines Hate Crimes meldet?

Die LGBTIQ-Helpline wird von ehrenamtlichen Berater:innen betrieben, also von Peers, keinen Therapeut:innen. Sie engagieren sich in ihrer Freizeit für die Community und unterstützen andere mit Rat und Tat. Die Beratungen sind sehr individuell und hängen davon ab, was die ratsuchende Person braucht. Bei Hate Crimes können das konkrete Tipps sein, wie man mit dem Erlebten umgehen und es verarbeiten kann. Wir klären auch auf, wie man eine Anzeige bei der Polizei machen kann, oder zeigen Möglichkeiten für professionelle psychologische Beratungen auf.

Was kann die Polizei gegen Hate Crimes tun?

Hate Crimes sind meist «normale» Delikte, wie Beschimpfungen oder Körperverletzungen, jedoch mit dem Motiv der LGBTIQ-Feindlichkeit. Bei einer Anzeige muss die Polizei diese also so verfolgen, wie andere Delikte auch, und versuchen, die Täter:innen ausfindig zu machen. Zusätzlich fordern wir, dass die Polizei sie auch klar mit dem Motiv LGBTIQ-Feindlichkeit statistisch erfasst – eben als Hate Crime. Das ist leider noch nicht überall so.

Was sind deiner Meinung nach die Ursachen von Hate Crimes?

Die Ursachen sind sehr unterschiedlich. Meist haben die Täter:innen aber eine dezidiert LGBTIQ-feindliche Grundeinstellung und «zeigen» diese, indem sie queere Personen angreifen. Gerade bei jungen Männern ist die Abwertung von Schwulen aber auch ein Mittel, um sich gegenseitig die eigene «Männlichkeit» zu «beweisen».

«Bei jungen Männern ist die Abwertung von
Schwulen oft ein Mittel, um sich gegenseitig
die eigene ‚Männlichkeit‘ zu ‚beweisen’»

Gibt es zu den Täter:innen Statistiken?

Unsere «Gegner» sind zum grossen Teil Männer, egal ob Schweizer oder Ausländer. Auch die Religiosität ist sehr entscheidend. Dabei ist es weniger relevant, welche Religionszugehörigkeit jemand hat, sondern wie stark jemand seine Religion lebt. So sind streng religiöse Personen meistens negativer gegenüber der Community eingestellt. Wir sehen auch, dass die Täter nicht bloss Gruppen von Jungs am Freitagabend sind. Es kommt auch immer öfter zu Beleidigungen durch ältere Personen, auch am helllichten Tag im ÖV. Das beschäftigt mich sehr, weil ich glaube, dass es hier zu einer Veränderung gekommen ist und es gesellschaftlich «akzeptierter» wird, Queers anzufeinden.

«Streng religiöse Personen sind meistens negativer gegenüber der Community eingestellt»

Warum nehmen deiner Meinung nach Hate Crimes in der Schweiz zu?

Man sieht den Effekt der gesellschaftlichen Debatte, die seit einigen Jahren durch rechte Parteien und die Medien aufgeheizt wird. Die grundlegenden Rechte von LGBTIQ+-Personen werden immer wieder in Frage gestellt, insbesondere jene von trans und nonbinären Menschen. Und das hat negative Folgen auf unsere Sicherheit im öffentlichen Raum, wie wir nun deutlich sehen. So sind auch 40% der Meldungen von trans und nonbinären Personen. 

Siehst du einen Zusammenhang zwischen der zunehmenden Gewalt und Menschen mit Migrationshintergrund?

Es ist zu einfach, mit dem Finger auf «die anderen» zu zeigen und kein Problem bei sich zu sehen. Der kulturelle Hintergrund hat einen Einfluss auf die Einstellungen, aber da haben wir als Gesellschaft auch eine Verantwortung, negative Einstellungen zu ändern. Wenn das Thema LGBTIQ in der Schule nicht verankert ist, dürfen wir uns nicht wundern, wenn junge Menschen mit einer LGBTIQ-feindlichen Einstellung aufwachsen und keine Sensibilisierung haben, egal ob sie hier oder anderswo geboren sind. Hier müssen wir ansetzen!

«Wenn das Thema LGBTIQ in der Schule nicht verankert ist, dürfen wir uns nicht wundern,
wenn junge Menschen mit einer LGBTIQ-feindlichen Einstellung aufwachsen und keine

Sensibilisierung haben»

Was macht Pink Cross genau und was sind eure Forderungen an die Politik?

Wir setzen uns jeden Tag für eine höhere Akzeptanz der Community ein. Unser Ziel ist es, so gut wie möglich in der Öffentlichkeit präsent zu sein. Aktuell führen wir eine Werbekampagne für die LGBTIQ-Helpline, um diese bekannter zu machen. Von der Politik erwarten wir, dass endlich der nationale Aktionsplan gegen Hate Crimes umgesetzt wird. Dieser wurde vom Parlament schon lange gefordert. Nun liegt es am Bundesrat, eine Strategie vorzulegen. Es braucht aber auch staatliche Unterstützung für die Beratungsangebote wie die LGBTIQ-Helpline, die aktuell ausschliesslich über Spenden und Stiftungsgeld finanziert wird – wie unsere gesamte Arbeit. Zudem sind entsprechende Sensibilisierungsmassnahmen und Weiterbildungen für die Mitarbeitenden der Polizei erforderlich.

Kann das teilweise «andere» oder vielleicht auch «extrovertierte» Verhalten von Mitgliedern der Community als eine Art Provokation gesehen werden?

Wenn man sichtbar ist, wird man leider eher angegriffen. Wenn man als «Hetero Dude» durchgeht und sich dem traditionellen Rollenbild entsprechend verhält, passiert das viel weniger. Die Konsequenz daraus darf aber nicht sein, dass man nicht mehr so rumläuft und ist, wie man es möchte. Es muss möglich sein, dass alle so sichtbar queer sein können, wie sie möchten und sich trotzdem sicher fühlen.   

«Es muss möglich sein, dass alle so sichtbar queer sein können, wie sie
möchten und sich trotzdem sicher fühlen»


Mehr Hate Crimes gegen die Community

Der Anstieg der Gewalt in der Schweiz betrifft auch die Community. Bei der LGBTIQ-Helpline von Pink Cross können seit 2016 Hate Crimes gegenüber der Community gemeldet werden.
«Mit dieser Meldestelle soll das Ausmass der Gewalt und Diskriminierung sichtbar gemacht werden. Denn eine umfassende nationale Statistik fehlt bis heute und nur die wenigsten Kantone erfassen LGBTIQ-feindliche Tatmotive», so Pink Cross im Jahresbericht zu den Hate Crimes. Im Jahr 2023 kam es zu 305 Meldungen. Im Vergleich zu den Vorjahren ist diese Zahl enorm gestiegen und hat sich seit 2021 mehr als verdreifacht. 

Bei gut einem Drittel handelte es sich um Beschimpfungen oder Beleidigungen. Auch Anstarren und unvorteilhafte Gesten und Handzeichen werden beklagt. Aber auch körperliche Gewalt ist ein Thema. So gaben 64 Personen an, körperliche Gewalt erlitten zu haben. Besonders betroffen von diversen Hate Crimes sind trans Personen – 40% aller Meldungen stammen von ihnen. Mehr als die Hälfte der Hate Crimes wurde im öffentlichen Raum ausgeübt, wie etwa auf der Strasse oder im ÖV. Hate Crimes können bei den Opfern zu schwerwiegenden psychischen Folgen führen: Fast drei Viertel der Opfer geben an, unter psychischen Folgen eines Hate Crime zu leiden. 

Die gemeldeten Hate Crimes stellen nur einen Bruchteil aller Fälle dar, denn die Dunkelziffer ist hoch, es wird lediglich ein kleiner Teil der Hate Crimes gemeldet. Pink Cross weist darauf hin, dass eine Vielzahl der Opfer von einer Anzeige absehen, weil sie etwa Angst vor Ablehnung oder vor den Täter:innen haben. Dass nur ein kleiner Teil der Hate Crimes zur Anzeige gebracht wird, zeigt auch die offizielle Statistik über «Diskriminierung und Aufruf zu Hass aufgrund der sexuellen Orientierung». Dort sind für 2023 «nur» 45 Fälle ausgewiesen, aber dennoch einige mehr als in den Jahren zuvor. Leider wird homophobe Gewalt aktuell erst in einigen Kantonen separat ausgewiesen und fehlt es diesbezüglich an polizeilichen Statistiken.