Alleine, nicht einsam

Die einen fürchten sich vor ihr – andere sehnen sie herbei: Zeit für sich selber, mit sich selbst. 

Zeit haben um zu spazieren, zu joggen, zu lesen, zu meditieren, zu trödeln, ist ein Genuss und hat nichts mit Einsamkeit zu tun. Dieses psychologische Phänomen hat einen Namen: Aloneliness.

Der Begriff kommt vom englischen Wort alonely: alleine. Aloneliness ist ein psychologisches Phänomen und benennt diese Kluft: jene zwischen dem Wunsch, Zeit mit sich selber zu verbringen – und den äusseren Umständen, die dies nicht erlauben. Man ist in Alltag, Aufgaben und Verantwortung so eingespannt, dass es dafür keinen Raum gibt.

Seit knapp zwei Jahren wird Aloneliness breit diskutiert. Dies, seit der kanadische Psychologe Robert Coplan in einer Studie knapp tausend Personen gefragt hat: Fühlst du dich schlecht, wenn du zu wenig Zeit allein verbringst? 

Alleinsein auf eigenen Wunsch hat etliche positive Effekte, so das Fazit der Untersuchung: Man neigt weniger zu Depressionen, erbringt bessere Leistungen.

Viele Ratgeber empfehlen zudem, auch in Liebesbeziehungen ab und zu für ein paar Stunden Pause voneinander zu machen. So kann die Leichtigkeit bleiben. Auch diese kurzen Time-outs haben einen (englischen) Namen: uncoupling. Also das kurzzeitige Entkoppeln von Paaren.

Aloneliness ist nicht mit Einsamkeit zu verwechseln (siehe Interview mit dem Psychotherapeuten Reiner Heidelberg unten): Einsamkeit, von der in der Schweiz jeder Dritte betroffen ist, wählt man nicht selber – sondern sie kommt von aussen auf einen zu: zum Beispiel durch einen Shutdown, eine Trennung oder wenn jemand stirbt, der einem nahe ist. Intensiv empfunden, kann Einsamkeit zu Ängsten und weiteren Erkrankungen führen.   

«Aloneliness braucht Mut»

Jeder Mensch ist anders – und es ist von Kultur zu Kultur verschieden: Psychotherapeut Reiner Heidelberg erläutert das psychologische Phänomen Aloneliness.

DISPLAY: Reiner Heidelberg, ist Aloneliness ein Erstwelt- und Luxusphänomen?

Reiner Heidelberg: Es gibt Kulturen, in denen man auf Unverständnis stösst, wenn man alleine sein möchte. Man ist so aufgewachsen und identifiziert sich damit, dass man ein Mitglied einer Familie oder eines Clans ist. Wenn sich jemand mit der Gruppe gleichsetzt, dann gibt es keinen Grund, allein sein zu wollen. 

Wie ist es in unserer Kultur?

In unserer Kultur identifizieren wir uns viel stärker als Individuum. Als unterschiedlich von anderen. Um mit sich selbst als Individuum in Verbindung zu bleiben, ist es hilfreich, sich immer wieder allein zu spüren. Wenn man queer ist, ist das noch ausgeprägter, da man ohnehin nicht zum Mainstream gehört. 

Soll Aloneliness-Zeit mit einer Tätigkeit verbunden sein – oder reicht es zu schauen, was sich so ergibt?

Wenn Aloneliness-Zeit Quality Time sein soll, ist es empfehlenswert, sich zu überlegen, was einem wirklich guttut, wenn man endlich mal alleine ist. Sonst verfällt man leicht in Ablenkungen wie Filme schauen, chatten und so weiter.

Was wäre besser?

Die hohe Kunst von Aloneliness ist es, sich bewusst dafür zu entscheiden, alleine zu sein. Ohne vorherige Planung genau hinzuspüren, was man in diesem Moment braucht. Dann ist man in lebendigem Kontakt mit sich selbst. 

Welcher Typ braucht warum mehr Zeit für sich?

Hochsensible Menschen. Sie nehmen differenziert wahr, wie es anderen geht und was in ihrer Umgebung abgeht. Durch viel Kontakt fühlen sie sich mit der Zeit überwältigt, ausgelaugt. Sie brauchen unbedingt Zeit alleine. Sonst werden sie krank. Wir sind alle in einem gewissen Sinne sensibel. Darum brauchen wir hin und wieder Erholung vom gewaltigen Input an Informationen und Sinneseindrücken.

Was kann jemand tun, der Aloneliness als Langeweile empfindet?

Bei Langeweile gibt es ein Rezept: Man strengt sich körperlich an. Danach spürt man sich besser. Und kann das Nichtstun geniessen.

Aloneliness kann auch von aussen kommen. Zum Beispiel, wenn man verlassen wird. Ist das dann Einsamkeit?

Wenn man unfreiwillig alleine ist, dann fühlt man sich einsam, alleine. Das ist Loneliness im Gegensatz zu Aloneliness. Verharrt man nicht in der Opferrolle, sondern schaut, wie sich das nutzen lässt – dann kann man Einsamkeit in Aloneliness verwandeln.

Welche Rolle spielt Aloneliness für Paare?

Aloneliness wird auch als der Zustand definiert, wenn man eigentlich allein sein möchte, aber nicht dazu kommt. Das ist relevant für Partnerbeziehungen. Häufig landet man mit dem Partner in einer Beziehungsroutine, in der die Lebendigkeit verloren geht. Vielleicht fühlt man sich im Zusammensein dann eher gelangweilt, dumpf, diffus genervt, obwohl man nichts Grundsätzliches am Partner auszusetzen hat. Wird das chronisch, gefährdet es die Beziehung. 

Was kann man dann machen?

Vielleicht ist es angezeigt, am gemeinsamen Fernsehabend fünf Minuten wegzugehen. Um sich und die eigenen Bedürfnisse wieder wahrzunehmen. Um danach dem Partner sagen zu können: Ich möchte lieber etwas anderes machen. Vielleicht braucht es ein Wochenende oder Ferien allein – damit man sich nachher wieder auf den Partner freut und etwas zu erzählen hat. 

Aloneliness braucht Mut und kreiert für dich und deine Beziehung eine neue Chance.   


rpt

Psychotherapeut Reiner Heidelberg hat seit dreissig Jahren eine eigene Praxis in Winterthur. Seit mehr als zwanzig Jahren unterrichtet er zudem Yoga.

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