Bauer sucht Bauer

Einen Bauernhof alleine zu bewirtschaften, ist fast unmöglich. Ein Landwirt ist auf Hilfe angewiesen – zum Beispiel durch seine Frau. Wenn es zum Bruch mit ihr kommt, weil der Bauer seine Homosexualität entdeckt, kann dies das Ende des Hofs bedeuten.

Robert ist gerne Bauer. Kurz nach seinem Berufsabschluss übernahm er den elterlichen Hof. Robert ist verheiratet mit Anina, eine Tochter und ein Sohn machen die Idylle für die tüchtige Bauernfamilie auf ihrem zertifizierten Biohof perfekt. Sie sind ein eingespieltes Team und nehmen am Dorfgeschehen teil. Ihr Hof bereitet ihnen trotz der vielen Arbeit grosse Freude. Robert schätzt und liebt seine Familie.

Nacht- und Tagträume | Robert ist mittlerweile fast 40 Jahre alt und nachts plagen ihn Wachträume, die ihn schon längere Zeit beunruhigen. Zwischen Anina und Robert hat sich nach der Geburt des zweiten Kindes eine körperliche, sexuelle Distanz eingeschlichen. Darüber geredet haben sie nicht.

Irritation und Abwehr | So langsam wird Robert bewusst, was seine Tag- und Nachtträume für ihn bedeuten. Seine sexuelle Anziehung bezieht sich auf das eigene Geschlecht. Seit seiner Jugendzeit verdrängte Robert diese Gefühle. Er wollte kein schwuler oder bisexueller Mann sein. Das passte so gar nicht in sein Lebenskonzept und zu seinem Beruf als Bauer. Ihr Bauernhof, Anina und seine Kinder sind seine Welt, und nicht die Homoerotik.

Druck und Dilemma | Im Internet informiert sich Robert nächtelang über Homosexualität. Er sucht anonym eine Beratungsstelle auf. Auch lernt er online Männer kennen, die in ähnlichen Situationen leben wie er.

 

«Er wollte kein schwuler oder bisexueller Mann sein. Das passte so gar nicht in sein Lebenskonzept und zu seinem Beruf als Bauer»

 

Der Leidensdruck wächst, und er sieht nur noch drei Möglichkeiten: Weiterhin den Schein zu wahren, seinem Leben ein Ende zu setzen oder mit Anina über seine Gefühle zu reden. Er zögert lange, weil er sich vor Aninas Reaktion fürchtet. Was, wenn sie ihn ablehnen oder mit den Kindern den Hof verlassen würde? Dadurch wäre ihre gesamte Existenz und die der geliebten Kinder massiv bedroht. Aus finanziellen Gründen könnte Robert Anina nicht einfach durch einen anderen Mitarbeiter ersetzen. Auch plagen ihn Ängste vor der Hetze der Dorfbewohner gegen ihn, den schwulen/bisexuellen Bauern. Robert steht gefühlsmässig am Abgrund.

Ende des Schweigens | Er spricht mit Anina, und nach einer langen Zeit des Schweigens entscheiden sie, weiter als Familie und Arbeitsgemeinschaft zu leben. Robert soll ein Doppelleben führen und Männer auswärts treffen.

Es folgen flüchtige sexuelle Begegnungen mit Männern. Diese erfüllen ihn jedoch nicht, denn eigentlich sehnt er sich nach einer beständigen Beziehung mit einem Mann. Dennoch möchte er seine Familie und seine Existenz nicht aufgeben.

Ein schwer aufzulösendes Dilemma. Toleranz und Grosszügigkeit sowie die Akzeptanz der sexuellen Vielfalt würden die Zukunftsaussichten der Familie sicher um einiges verbessern.

Übrigens: Man geht davon aus, dass in der Schweiz mehr homosexuelle Menschen leben als Bauern. Beide sind ein Teil der Gesellschaft, leben mittendrin, gehören dazu. ||

 

 
 
 
 
Text: Christian Conrad
Christian Conrad ist Sexualpädagoge sowie Sexualberater und Bereichsleiter Lesbian, Gay, Bi, Heterosexuell, Transgender und Intersexuelle Menschen (LGBHTI*) bei der Aids-
Hilfe GR.