Selbstfahrende Autos, Roboter-Roomservice, ein Smart-Urinal: Ich habe in China die Zukunft gesehen. Sie ist faszinierend und gruselig zugleich.
Von Frank Richter
Ich dachte immer, dass die Schweiz technologisch ziemlich weit vorne mitspielt. Man kann überall bargeldlos bezahlen, der Tesla ist das meistgekaufte Auto und dank Easy-Ride muss kein Mensch noch Zugtickets lösen. Nach einem Monat in China muss ich meine Meinung korrigieren. Was die Digitalisierung angeht, leben wir in der Steinzeit.
Also nicht, dass wir uns falsch verstehen. Die Schweiz ist wunderschön. Es ist angenehm, in einem Land mit Demokratie und ohne permanente Überwachung zu leben. Dennoch habe ich im Reich der Mitte die Zukunft gesehen. In Shanghai fahren autonome Taxis, in Peking rollen Roboter durch Shoppingmalls und verkaufen Eiscreme, in Nanjing analysiert ein smartes Urinal meinen Harn in Echtzeit und zeigt mir die Werte inklusive Gesundheitstipps auf einem Display an. Ich bin begeistert. Das Ding wird Arztpraxen noch in den Urin treiben.
Wer kein Smartphone hat, ist aufgeschmissen
Es ist faszinierend zu sehen, wie schnell die Digitalisierung voranschreitet, wenn es praktisch keinen Datenschutz gibt. Viele Apps in China kommen mit Features daher, die Google und Co. alt aussehen lassen. Auf meiner Navigationsapp erscheint eine Mitteilung, die ich nicht verstehe. Meine chinesische Reisebegleitung klärt mich auf. Da stehe: «Es sind 36 Grad. Soll ich Ihnen eine Fussroute anzeigen, die im Schatten liegt?» Warum gibt es diese Funktion bei uns nicht?
Am Flughafen lässt mich eine App auf die Sekunde genau wissen, wie lange ich noch auf meinen Koffer warten muss. Sobald irgendwo ein sprechender Roboter mein Gesicht erfasst und es als «westlich» einstuft, spricht er Englisch. Selectautomaten sind mit einer Kamera ausgestattet. Ist das Gesicht staatlich registriert, kann damit bezahlt werden. Einfach in die Kamera lächeln und 20 Sekunden später fällt ein Softdrink ins Ausgabefach. Viele Services sind umsonst. Powerbanks oder Schirme kann man für eine kurze Zeit gratis ausleihen. Einfach mit dem Handy registrieren, Pass abfotografieren, Kreditkarte verknüpfen, Fotos vom Gesicht machen (teilweise inklusive offenem Mund und Zähnen), weitere Infos eingeben und schon hält man einen Gratis-Regenschirm in der Hand.
Was man in China übrigens auch andauernd in der Hand hält, ist das Smartphone. Alles wird übers Handy gemacht. Zugtickets kaufen, Überweisungen tätigen, im Restaurant bestellen, ein Taxi buchen – ohne Handy funktioniert gar nichts. Wer alt ist und keines besitzt, muss seine Nachbarn um Hilfe fragen. Es gibt in Wohnquartieren Sammelstellen für Senior:innen, die ein Taxi bestellen möchten. Sie warten an einer Infotafel, bis jemand mit einem Smartphone aufkreuzt. Diese Person bestellt ihnen dann eine Fahrgelegenheit.
Nur Bares ist Rares
In den letzten Tagen meiner Reise realisiere ich, dass ich in drei Wochen nicht einmal cash bezahlt habe. Das Bargeld muss vor dem Rückflug unbedingt noch weg. Als ich in einem Kaufhaus ein T-Shirt mit vielen bunten Nötli bezahlen möchte, guckt mich die Verkäuferin panisch an. Sie öffnet die Kassenschublade und zeigt mir, dass sie kein Retourgeld hat. Tatsächlich, die Schublade ist bis auf zwei Büroklammern komplett leer. Ich tippe in meinen Übersetzer: «Kein Problem, behalten Sie das Wechselgeld.» Sie schüttelt energisch den Kopf und deutet an, dass ich warten soll.
Nach zwei Minuten kommt sie lächelnd aus einem Lagerraum zurück, in der Hand eine transparente Plastikdose mit gerollten Geldscheinen. Freudestrahlend drückt sie mir meine umgerechnet 70 Rappen Wechselgeld in die Hand. «Sorry für die Wartezeit. Hier hat seit vier Monaten keiner mehr bar bezahlt», tippt sie in meinen Übersetzer. Auch mir huscht ein Lächeln übers Gesicht. Schön, konnte ich als Westler nochmals etwas Nostalgie in ihr Leben bringen.