Das starke Band der Freundschaft

Kunstraub, Aids und eine ungewöhnliche Freundschaft: Der Roman «Fast wie ein Bruder» des renommierten Schweizer Schriftstellers Alain Claude Sulzer hat vieles, was eine packende Lektüre ausmacht. Im Vorfeld hat er für eine Kontroverse gesorgt – die perfekte Publicity?

Von Marcel Friedli-Schwarz

DISPLAY: Alain Claude Sulzer, was hat Sie zu Ihrem neuen Buch «Fast wie ein Bruder» inspiriert?

Alain Claude Sulzer: Vor allem die Tatsache, dass mein Vater während Jahrzehnten gemalt hat – ohne seine Bilder je auszustellen oder zu verkaufen. Über die Gründe kann man spekulieren. Zum anderen, dass es meinem Bruder und mir etliche Jahre nach seinem Tod gelang, einen jungen Galeristen zu finden, der sich für diese Bilder interessierte und sie erfolgreich ausstellte. 

Und sie auch verkaufte?

Ein Grossteil wurde verkauft. Auch wenn es sich um ganz anders geartete Bilder handelt als um jene des Künstlers Frank in meinem Roman. Und obwohl die Ausgangslage eine vollkommen andere ist: Was geschieht, wenn unentdeckte Kunstwerke plötzlich wieder zum Vorschein kommen?

Der Ich-Erzähler scheint kein besonderes Verständnis fürs Schwulsein seines Quasi-Bruders Frank aufzubringen.

Niemand hat ein natürliches Recht auf das Verständnis der anderen. Quasi-Brüder haben es so wenig wie richtige Brüder. Und vom literarischen Standpunkt aus betrachtet ist es interessanter, wenn der Ich-Erzähler aus einer gewissen kritischen oder sogar ablehnenden Haltung als mit Empathie erzählt. 

Über HIV/Aids spricht man in der schwulen Community nicht so gerne – wie herausfordernd war es, dieses Thema literarisch abzubilden?

Ich habe den Eindruck, dass jene, die von Aids mittelbar oder unmittelbar betroffen waren, durchaus darüber sprechen. Die Frage ist wohl eher, wer ihnen noch zuhören mag. Opfergeschichten haben leider einen relativ kurzen Verfallswert. Man geht lieber zur Tagesordnung über. Und die sah für die Schwulen nach Aids – manche sagen dank Aids – deutlich besser aus, als man befürchtet hatte. 

Sie haben Aids selber hautnah miterlebt.

Beim Schreiben kamen so manche Ängste wieder hoch, die ich beiseitegeschoben hatte. Und es war eine Menge Recherche nötig, um sich die Chronologie von den ersten Hiobsbotschaften bis zu den positiven Signalen – dass die Krankheit behandelbar ist – noch einmal vor Augen zu führen. 

Ihr Buch hat im Vorfeld hohe Wellen geworfen: Stichwort «Zigeuner», Fördergelder, Zensur-Vorwurf (siehe «Kontroverse ums Z-Wort»): Würden Sie im Nachhinein gelassener agieren?

Ich würde höchstens das Wort Zensur weniger bemühen. Wobei nicht von der Hand zu weisen ist, dass solche Vorgaben oder Zurechtweisungen von Kulturämtern unmissverständlich zur Zensur in Köpfen von Schreibenden aufrufen. Und ich zweifle keine Sekunde daran, dass sie damit Erfolg haben. Das heisst: Von Geförderten erwartet man, dass sie den Duden wie das Gesetzbuch kennen und lieber ihm als ihrer inneren Stimme gehorchen. 

Ein direktes, sachliches Gespräch hätte die Wogen vielleicht geglättet?

Inzwischen ist bekannt, dass die zuständige Amtsleiterin nicht mit mir sprechen wollte. Für sie war die Sache klar: Es musste ein Exempel statuiert werden. Das direkte, sachliche Gespräch, das Sie erwähnen, wurde nie erwogen. Insofern trifft mich der Vorwurf nicht, zu Unrecht an die Öffentlichkeit gegangen zu sein – im Gegenteil: Ich bin froh, es getan zu haben. Statt mich im stillen Kämmerchen zu ärgern.

Man könnte auch sagen: Diese Kontroverse ist die perfekte Publicity für Ihren neuen Roman.

Auch das hat man mir vorgeworfen. Man hat sogar konstruiert, ich hätte das Amt für Korrektheit bewusst in die Falle gelockt. Was man einem Autor alles so zutraut!

Zurück zu Ihrem neuen Roman: Warum haben Sie sich für ein offenes Ende entschieden?

Weil ich die Welt nicht mit dem Besen reinkehren wollte. Das schreibt E.T.A. Hoffmann, den ich am Ende des Buchs zitiere. 

Als Leser bin ich darüber alles andere als glücklich.

Auch im Leben findet nicht jede Geschichte ihren Abschluss. Nicht jedes gestohlene Bild kommt wieder zum Vorschein. Nicht jede Fälschung wird enttarnt. Nicht jede menschliche Bosheit bestraft. Die Rätsel, welche die Bilder aufgeben, spiegeln sich im Rätsel des offenen Endes dieser Geschichte.



Frank und Matteo

Eine erste Liebe und ihr tragisches Ende. Auszug aus dem Buch
«Fast wie ein Bruder» von Alain Claude Sulzer. 

Mit freundlicher Genehmigung des Autors.

 

Franks und Matteos kurze Affäre dauerte nicht mehr als vier Wochen. Vier Wochen genügten, um die Welt auf den Kopf zu stellen, für Frank, für Matteo, für mich, für unsere Väter und die anderen. 

An einem Samstag hatten sie sich an der Haustür getroffen, die aus Metall und opakem Glas bestand. Ich glaube das kalte Material noch heute unter meinen Fingerkuppen zu spüren.

Die Tür öffnete sich nach aussen, wo Matteo stand, der davor verharrte und sie Frank aufhielt, der sich an ihm vorbeidrückte, jedoch seinen Körper unversehens dehnte, als wollte er den anderen berühren. Er war selbst überrascht. 

Frank atmete den frischen Duft der Seife ein, mit der Matteo sich an diesem Morgen gewaschen haben musste; er roch etwas, was ihm die Zukunft versprach: Erwachsen ganz anders zu sein als der Jugendliche, der er noch war. Der Geruch: Eine Mischung aus Lavendel und Nelke. 

Ihre Blicke hatten sich einen Lidschlag zu lange verhakt, als wollten sie verschmelzen. Sie waren aneinander hängengeblieben wie Klinge und Magnet. Es gab kein Entwinden, kein Entkommen, keine Distanz. Nur mit Mühe rissen sie sich voneinander los.

Dann fiel die Tür lautlos hinter Frank ins Schloss. Als er sich umdrehte, sah er den Umriss des jungen Mannes hinter dem Glas nach oben verschwinden. Matteos Namen kannte er noch nicht. Wie alt mochte er sein? Etwas älter und womöglich erfahrener als er.

Sie hatten kein Wort gewechselt. Die Luft, die auf der Haut zu spüren war, das fliegende Haar, der Duft der Seife genügten. Zu spät, ihn zu berühren, jetzt auf der Stelle. Er wusste, worauf es hinauslief und dass sie sich einig waren. Sie waren schon miteinander verbunden, bevor sich die Haustür hinter ihnen schloss. 

Es war nur eine Frage des Augenblicks und der Gelegenheit, wann es passieren würde, denn nichts und niemand konnte sie nunmehr daran hindern. 

Frank ging in die Innenstadt und erledigte die Einkäufe in einem entrückten Zustand, als sitze er am Abgrund und warte nur darauf zu fallen. Er konnte es kaum erwarten. 

Als er endlich wieder in seinem Zimmer war, onanierte er schnell und heftig, so oft, bis er den Körper des Jungen neben sich spürte, dessen Gesicht allmählich verblasste. Völlig erschöpft schlief er dann ein, mit Leere gefüllt, glückselig und ängstlich.

Dass Matteo schön war, sah selbst ich während des Tumults. Trotz der Demütigung blieb seine Schönheit unberührt. Auch heute stehen mir keine Worte zur Verfügung, sie angemessen zu beschreiben.  

Was ich heute weiss, war mir damals noch längst nicht klar: Die Kamera hätte ihn geliebt. Er hatte schwarze Locken und eisgraue Augen, seine Haut war von mattglänzender Bräune, die Zähne, Finger- und Zehennägel – all das entging mir nicht – waren perlmuttweiss, sein Körper schon der eines Erwachsenen, die Schultern breiter als die eines Kindes, die Schenkel gerundet, die Waden gepolstert, fast schon ein Mann, all das, was Frank besonders an ihm fasziniert haben wird.

Später erfuhr ich, dass er schon neunzehn war und auch – was mich damals schockierte –, dass man ihn bereits verheiratet hatte. Es gab Gerüchte, er sei schon Vater. Es gab keine Details und schon gar keine Gewissheiten.

Matteos Schönheit, die auch etwas mit Anmut und Elastizität zu tun hatte, entging mir so wenig wie sein Stolz, der von seinen Angehörigen so übel verletzt wurde, als sie ihn halbnackt aus der fremden Wohnung zerrten, von Frank trennten und vor den anderen – den eigenen und den fremden Leuten – zur Schau stellten und beschimpften, um ihn dann wie einen Verbrecher abzuführen. 

Später erzählte mir Frank, dass die Zigeuner nie nach Matteos Kleidung und Schuhen gefragt hätten. Sie waren einfach in seiner Wohnung liegengeblieben, niemand schien sie zu vermissen, keiner fragte nach, wo sie blieben, keiner unternahm den Weg nach oben noch einmal. 

Obwohl sie ihm zwei Nummern zu klein waren, hatte Frank in der Wohnung tagelang Matteos Schuhe getragen und mit seinem Unterhemd unter dem Kopfkissen geschlafen. Wenn er danach griff, glaubte er die abgezogene Haut seines verlorenen Freundes zu spüren. Es tat weh.

An Matteos Wohnungstür zu klingeln und die Sachen abzugeben, hatte er sich nicht getraut; was passieren würde, wenn man ihm öffnete, wollte er sich lieber nicht vorstellen. Er schätzte die Bedrohung, die von Matteos Familie ausging, hoch genug ein, um ihr auszuweichen. Hätte er sich zu diesem Zeitpunkt vorstellen können, Matteo nie wiederzusehen, hätte er vielleicht anders gehandelt. Er hätte geklingelt. Dass das, woran er nie gedacht hatte, tatsächlich geschah – dass Matteo heimlich fortgeschafft und nie mehr gesehen wurde –, lehrte ihn früh, Demütigungen zu ertragen, deren Empfänger er war, ohne den Absender zu kennen. Vieles würde auch in Zukunft im Ungefähren, unausgesprochen und dennoch präsent bleiben. 

Die Bedrohung, mit der Frank zum ersten Mal konfrontiert worden war – durch eigenes Verschulden oder einfach durch einen dummen Zufall –, würde sich noch oft manifestieren; sie liess sich nicht mehr aus der Welt schaffen. Er hatte nur dieses Leben – er hatte keine Wahl, es anders zu bewältigen; allein das Wort Bewältigung war eine Zumutung. Es war gut, dass er Künstler wurde und in diesem besonderen Umfeld leben konnte, wo man sich nicht darum kümmerte, wie jemand sich verhielt.

 



Fast wie ein Bruder

«Fast wie ein Bruder» von Alain Claude Sulzer ergründet entlang der gemeinsamen Lebensgeschichte zweier verschiedener Männer existenzielle Fragen über Freundschaft und Abschied, (Homo-)Sexualität, Kunst und Ruhm. 

Der Erzähler ist in den Siebzigern und Achtzigern des letzten Jahrhunderts aufgewachsen. Frank, der gleichaltrige Nachbarsjunge von nebenan, mit dem er in fast symbiotischer Freundschaft die Kindheit durchlebt, entdeckt die Welt der modernen Kunst für sich. Nach einem Skandal um eine homosexuelle Affäre von Frank trennen sich die Wege der beiden Jugendfreunde. 

Frank versackt als erfolgloser, aber wie besessen malender Künstler in prekären Verhältnissen in New York. Nach langer Zeit begegnen sich die Freunde am Sterbebett des an Aids erkrankten Frank ein letztes Mal. 

Zweihundert von Franks Gemälden landen nach dessen Tod beim Erzähler. Jahre später entdeckt er jene Bilder, die er in seiner Remise wähnt, in einer Berliner Galerie. Rätselhaft, wie sie dort hingelangt sind. Die Kunstwelt feiert den unbekannten Maler als Genie. Und im Bildnis eines nackten onanierenden Mannes erkennt sich der schockierte Erzähler selbst.

Alain Claude Sulzer,
Fast wie ein Bruder, 192 Seiten, Galiani Berlin,
CHF 30, im Buchhandel.