Toxische Männlichkeit und Gewalt im Schweizer Militär: Jede zweite befragte Person ist betroffen.
Diskriminierungen und sexualisierte Gewalt sind in unserer Armee nach wie vor weit verbreitet. Dies belegt eine Studie der Armee mit ernüchternden Resultaten. DISPLAY beleuchtet die Ergebnisse und Reaktionen auf die Studie.
Dass Armeen nicht gerade für Toleranz, Diversität und Offenheit gegenüber gesellschaftlichen Randgruppen stehen, ist bekannt. Die nun veröffentlichten Ergebnisse einer vom Bund in Auftrag gegebenen Studie sind schlimmer als befürchtet. Nahezu jede zweite befragte Person (49,6 %) gab an, Diskriminierungen im Schweizer Militär bezogen auf das Geschlecht oder die sexuelle Orientierung erlebt zu haben. Darüber hinaus berichteten ganze 40 % der Befragten von Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt – was sowohl verbale und nonverbale als auch körperliche Übergriffe umfasst. Besonders häufig kommt verbale Gewalt vor.
Gleichstellungsstrategie des Bundes
Die Studie wurde im Rahmen der Gleichstellungsstrategie 2030 des Bundes durchgeführt, die 2021 verabschiedet wurde. Das Hauptziel dieser Strategie besteht darin, die Gleichstellung von Männern und Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen zu fördern. Besonders relevant für die Förderung von Toleranz im Militär ist das Handlungsfeld, in dem es heisst: «Diskriminierung, Sexismus und Geschlechterstereotypen werden gesellschaftlich nicht mehr toleriert und schränken die Lebensformen der Frauen und Männer nicht mehr ein. Um sicherzustellen, dass Frauen und Männer während ihres ganzen Lebens die gleichen Chancen haben, müssen alle Formen von Diskriminierung, Sexismus und Geschlechterstereotypen beseitigt werden.»
Im Rahmen der Gleichstellungsstrategie wurde die neu gegründete Fachstelle Frauen in der Armee und Diversity (FiAD) beauftragt, zum ersten Mal eine Befragung zum Thema Diskriminierung und sexualisierte Gewalt aufgrund des Geschlechts und/oder der sexuellen Orientierung in der Schweizer Armee durchzuführen. Die anonyme Befragung wurde von Januar bis März 2023 mit mehr als 1100 Teilnehmenden durchgeführt. 15 % der Befragten identifizierten sich als nicht heterosexuell oder nicht cis, 4 % als nicht-binär.
Sexistische Witze an der Tagesordnung
Zurück zu den Ergebnissen. Die Studie zeigt, dass queere Menschen sowie Frauen allgemein besonders häufig Diskriminierung und sexualisierte Gewalt erfahren. Mehr als die Hälfte der nicht-heterosexuellen Männer berichten von Diskriminierung, im Vergleich zu etwa einem Viertel der heterosexuellen Männer. Zudem gaben mehr als 50 % aller Frauen an, sexualisierte Gewalt beim Militär erlebt zu haben und haben mehr als 86 % aller Befragten mindestens eine Situation mit beispielsweise sexistischen Bemerkungen oder Witzen, Hinterherpfeifen oder anzüglichen Gesten, unerwünschten Berührungen bis hin zu unerwünschten sexuellen Handlungen erlebt.
Die Befragten, die der Meinung sind, Männer, Frauen oder queere Personen würden in der Armee stärker diskriminiert als in der Gesamtgesellschaft, machen vor allem die Organisationskultur der Schweizer Armee für diese Missstände verantwortlich «Eine Organisationskultur trägt und prägt die vorherrschenden Denk-, Fühl- und Handlungsmuster in einer Organisation. Sie beinhaltet aktuell aber auch Formen der Diskriminierung und der sexualisierten Gewalt», präzisiert die Schweizer Armee im zusammenfassenden Studienbericht.
Auch die Armee zeigt sich schockiert über die Ergebnisse. Um die Situation zu verbessern, wurde nun eine Strategie mit sechs Handlungsfeldern und 16 Massnahmen entwickelt: «Die Schweizer Armee will ihre Verantwortung und ihren Ausbildungsauftrag wahrnehmen», heisst es im Studienbericht (siehe Interview mit Mahide Aslan, Leiterin der Fachstelle für Frauen in der Armee und Diversity bei der Schweizer Armee, auf der nächsten Seite).
«Schwul» als Schimpfwort
In der Studie finden sich konkrete Aussagen von Betroffenen, die nachdenklich stimmen. So heisst es: «Die Erläuterungen verweisen auf eine gewisse Normalität homophober Begriffe und Sprüche. Ein Offizier schreibt: «Wer die Rekrutenschule abgeschlossen hat, ohne mindestens einmal als ‹Schwuchtel›, ‹Tunte› oder dergleichen bezeichnet worden zu sein, hebe die Hand. Zudem werden männliche Homosexualität und Schwäche gleichgesetzt, was der vorherrschenden Vorstellung militärischer Männlichkeit entspricht. Frauen in der Armee werden unabhängig ihrer sexuellen Orientierung im Sinne einer Beschimpfung als Lesben oder (kinderlose) Kampflesben bezeichnet.»
Deutliche Kritik von Pink Cross
Pink Cross kritisiert die Ergebnisse der Studie scharf: «Die patriarchale Kultur ist tief in den Strukturen der Armee verankert und führt dazu, dass Frauen sowie trans, nicht-binäre, schwule, lesbische und bisexuelle Armeeangehörige tagtäglich Diskriminierung und sexualisierte Gewalt erfahren», heisst es in einem offiziellen Statement.
Die Schweizer Armee habe über Jahrzehnte das Bild von «starken Männern» zum Schutz der Zivilbevölkerung kultiviert.
Die Armee fungiere weiterhin als Ort, an dem kriegerische Männlichkeit reproduziert und Gewalt legitimiert werden. Dementsprechend fordern die LGBTQ+ Dachverbände Transgender Network Switzerland (TGNS), Pink Cross und die Lesbenorganisation Schweiz (LOS), dass «die Armee endlich ihre Verantwortung wahrnimmt, den Kulturwandel anpackt und konkrete Massnahmen zum Schutz von LGBTQ+ ergreift».
«Die Armeeführung ist tief betroffen»
Interview mit Mahide Aslan über die Studie «Diskriminierung und sexualisierte Gewalt in der Schweizer Armee».
Interview Mathias Steger
DISPLAY: Was sagen Sie zum Ergebnis dieser Studie?
Mahide Aslan: Die Armeeführung ist betroffen vom Ausmass an Diskriminierung und sexualisierter Gewalt. Mich hat überrascht, dass es auf allen Stufen und in allen Graden eine Betroffenheit gibt, wenn auch in unterschiedlichem Ausmass. Die Studie hat mir die Augen weiter geöffnet, was die verschiedenen Formen von Diskriminierung und sexualisierter Gewalt anbelangt.
An wen können sich Betroffene beim Militär wenden und wie werden sie unterstützt?
Das Dienstreglement zeigt den Weg auf: Es soll eine Meldung an die vorgesetzte Person erfolgen. Wenn die vorgesetzte Person die Ursache ist, dann gilt es, die nächsthöhere vorgesetzte Person respektive Stelle zu informieren. Parallel stehen allen betroffenen Angehörigen der Armee die Melde- und Beratungsstelle der Fachstelle Frauen in der Armee und Diversity (FiAD) sowie die Unabhängige Vertrauensstelle für Angehörige der Armee (VSADA) zur Verfügung. Begleitung und Betreuung finden diese auch beim Sozialdienst der Armee (SDA), dem psychologisch-pädagogischen Dienst (PPD A) und der Armeeseelsorge (AS). Opfer haben – unabhängig von der Anzeige – Zugang zu Opferhilfe.
Können Sie Details zu den geplanten Handlungsfeldern mit konkreten Massnahmen nennen? Was bedeutet die Massnahme «Informieren und Sensibilisieren aller Stufen der Armee» genau?
Die Armee hat 6 Handlungsfelder bestimmt, die von allen Phasen der Prävention, über Schutz und Verbesserung der Verfahren bis hin zu Allianz reichen. Es sind insgesamt 16 Massnahmen. Das Sensibilisieren setzt insbesondere dort an, wo Diskriminierung und sexualisierte Gewalt gemäss Studie vorkommen und oft nicht erkannt werden: bei Bemerkungen oder Sprüchen im Alltag, die ebenso verletzend sein können wie andere Formen sexualisierter Gewalt und diesen überdies den Weg bereiten. Dazu muss durch Information und Schulung vermittelt werden, dass diese Verhaltensweise nicht toleriert wird und dagegen vorgegangen werden muss. Es gilt hinsehen – beurteilen – handeln. Das ist auch, aber nicht ausschliesslich, eine Führungsaufgabe. Weitere Massnahmen, wie das Handbuch zum Vorgehen bei Diskriminierung und sexualisierter Gewalt oder die Selbstverpflichtung innerhalb von Gruppen durch einen eigenen Kodex, sollen das Vorgehen und Handeln gegen Diskriminierung und sexualisierte Gewalt stärken.
Wie geht die Armee aktuell mit Täter*innen um?
Die Handlungen mutmasslicher Täter*innen werden im Rahmen von formellen Verfahren, disziplinarisch und/oder militärstrafrechtlich beurteilt. Es sind Antrags- oder Offizialdelikte; das ist die rechtlich ausgewiesene rote Linie. Das Vorgehen gegen Diskriminierung und sexualisierte Gewalt beginnt jedoch früher, nämlich mit der Prävention. Es darf kein Klima entstehen, in dem sexistische Sprüche und diskriminierende Witze als «nicht schlimm» empfunden werden oder in dem betroffene Angehörige das Gefühl haben, sie müssten das still aushalten.
«Schwulenwitze» und die abwertende Verwendung des Wortes «schwul» sind leider ziemlich gängig. Was macht das Militär konkret dagegen?
Diese Sprüche und Ausdrücke sind oft «veralltäglicht» worden. Das darf nicht sein. Auch hier setzt die Sensibilisierung an, um wieder das Bewusstsein zu schaffen dafür, was solche Worte und Ausdrücke bedeuten und welche Wirkung sie haben. Mit der Selbstverpflichtung durch den Kodex zu Beginn des Militärdienstes in der Rekrutenschule, aber auch zu Beginn von anderen Diensten im Rahmen der Fortbildung soll dem entgegengewirkt werden. Gruppen verpflichten sich selber zu bestimmten Verhaltensformen, Werten und Umgang mit Konflikten. Darin werden auch der Sprachgebrauch und das Nein zu homo- oder transphoben, aber auch misogynen Ausdrücken geregelt.
Pink Cross hat scharf auf die Studie reagiert und bezeichnet die Armee als Ort, an dem kriegerische Männlichkeit reproduziert und Gewalt legitimiert wird. Wie reagieren Sie darauf?
Die Armee ist historisch begründet quasi eine von Männern für Männer geschaffene Organisation. Ja, es gibt ein bewusstes/unbewusstes soldatisches Ideal, das einerseits auch historisch gewachsen und andererseits sehr eng und ausschliessend ist. Mit allen Entwicklungen in der Gesellschaft und auf dem Weg der Armee zur inklusiven Organisation kann dieses Idealbild nicht weiter bestehen. Es muss zugunsten von vielfältigen Idealen ersetzt werden.
Wir wollen eine Armee, in der alle Personen mit den persönlichen Fähigkeiten in der richtigen Funktion einen Beitrag zur Sicherheit dieses Landes leisten und sich dabei inkludiert und psychologisch sicher fühlen können.
Aufarbeitung der Geschichte beim Schweizer Militär
Parallel zur kürzlich veröffentlichen Studie läuft aktuell das Projekt «Aufarbeitung und Anerkennung
des Unrechts, das Homosexuellen in der Armee zugefügt worden ist» des Interdisziplinären Zentrums
für Geschlechterforschung der Universität Bern.
Es untersucht spezifisch die Situation von queeren Menschen und bezieht sich auf den Zeitraum von
1942 bis 2020. Unter anderem befasst es sich mit der Frage nach einer möglichen Wiedergutmachung.
Dabei werden Zeitzeugen und Betroffene befragt und schliesslich auch Empfehlungen erarbeitet, wie
Diskriminierungen aufgrund der geschlechtlichen Identität weiterhin abgebaut werden können.
Von Mathias Stege
«Wir erstellen einen unabhängigen Forschungsbericht zur Frage, ob und inwiefern homosexuelle oder als homosexuell wahrgenommene Menschen in der Schweizer Armee Unrecht erfahren haben und welche Folgen dies für die Betroffenen hatte – und vielleicht bis heute hat. Eine wichtige Frage dabei ist, ob systematisch Unrecht zugefügt wurde – ob es also zum Beispiel offizielle oder inoffizielle administrative Vorgänge gab, homosexuelle Armeeangehörige von militärischen Karrieren abzuhalten», sagt Corinne Rufli, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Mitverantwortliche für das Projekt. Sie erklärt, dass es sich dabei um den ersten offiziellen Auftrag zur Aufarbeitung der Diskriminierungen in der Schweiz überhaupt handelt: «Es geht um alle Arten von Unrecht, wie alltägliche diskriminierende Äusserungen, Belästigung, Gewalt, auch sexuelle Gewalt, Diskriminierung bei der Rekrutierung oder Beförderungen, aber auch um die grundsätzliche Frage, ob in der Armee eine homophobe Kultur herrschte und was das für Betroffene bedeutete», so Rufli weiter.
Codes für Homosexualität beim Militär
Da das Projekt aktuell noch im Gang ist – es wird 2027 abgeschlossen – dürfen keine Ergebnisse bekannt gegeben werden. «Für uns ist es wichtig, dass möglichst viele Leute vom Projekt erfahren und an der Studie teilnehmen», so Rufli. Nationalrätin Priska Seiler Graf – Verfasserin des entsprechenden Postulats im Parlament – spricht in der Begründung zum Postulat etwa von Hinweisen auf «Codes für Homosexualität, welche von Verwaltungsbeamten oder Truppen-Kommandanten auf Dienstunterlagen gekritzelt» worden seien. «Solchen Hinweisen gehen wir nach und untersuchen unter anderem mögliche psychische Folgen für Betroffene», so die Historikerin.
Weitere Betroffene für die Studie gesucht
Für die laufende Studie werden weiterhin Betroffene gesucht, die bereit sind, ihre Erfahrungen zu teilen. «Nur wenn Betroffene bereit sind, uns von ihren Erfahrungen zu erzählen, können wir ein ganzheitliches Verständnis für das Geschehene entwickeln», schildert Rufli und ruft alle Menschen auf, die im Zusammenhang mit der Armee von homophober Diskriminierung betroffen waren, oder Personen, die solche Vorfälle mitbekommen haben, an der Studie teilzunehmen. «Wir suchen insbesondere noch ältere, betroffene Männer, da sind wir auf Kontaktpersonen angewiesen, die ihnen von unserem Projekt erzählen oder sie ermutigen, sich bei uns zu melden.»
Weitere Informationen zur Studie und zur Teilnahme findest du auf der Projektseite: forschung-armee-homosexualitaet.unibe.ch
Es bleibt zu hoffen, dass die vom Bund ergriffenen Massnahmen gegen Diskriminierungen bald Wirkung zeigen und das Projekt zur Aufarbeitung der Geschichte des Schweizer Militärs zu einem toleranteren Umfeld führt.