Fett-weg-Spritze | Riskanter lebenslanger Chemie-Cocktail? 

Mithilfe eines Pieks die Kilos purzeln lassen. Es klingt so einfach und praktisch. Ohne aber selber etwas für einen Gewichtsverlust zu tun, sind Spritzen wie Mounjaro oder Wegovy für die Abnehmwilligen nicht ohne Risiko.

 

Das Gewicht wurde bei Marcio Enz erst vor drei Jahren zum Thema. Früher war der gebürtige Brasilianer schlank. Als es dann aber gegen die Fünfzig ging, setzten sich dort und da immer mehr Fettpölsterchen an. «Dies, obwohl ich trainiert und mich gepflegt habe.» Vor zwei Jahren hat sich der selbständige Kosmetiker dann über das Internet die Abnehmspritze Ozempic bestellt. 

Das Mittel brachte aber nicht die gewünschte Wirkung; die Pfunde purzelten nicht so, wie sich das Marcio erhofft hatte. Eigentlich blieb sein Gewicht während der sechsmonatigen Anwendung unverändert. «Man muss Ozempic pyramidenmässig einnehmen und die Menge nach vier Wochen verdoppeln», erklärt der 50-Jährige. Er habe aber immer die gleiche Dosis genommen, was vielleicht der Grund gewesen sei, dass sich kein Erfolg gezeigt habe.

Ozempic applizierte der Betreiber der Zürcher «Beauty Lounge for men» zudem nicht unter ärztlicher Aufsicht. Als er sich einmal für eine Kontrolle bei seinem Hausarzt meldete, reagierte dieser ablehnend. «Er meinte, wenn ich Ozempic zum Abnehmen verwende, hätten Menschen, die an Diabetes, also an Zuckerkrankheit leiden, kein Medikament mehr», so Marcio gegenüber DISPLAY. Aus Prinzip habe man ihn deshalb nicht mehr behandelt. 

Marcios Wunsch, wieder schlanker zu sein, wollte der Gay, der seit 1993 in Zürich lebt, deshalb nicht auf Eis legen. Seit einem Jahr wird er von zwei Ärzten aus Brasilien betreut, die ihm das Mittel Mounjaro verschrieben. 

Mit Diät und Fitness zum Erfolg 

Die beiden Mediziner, mit denen sich Marcio jeweils online verbindet, wurden ihm von einer Kollegin empfohlen. Bluttests und Kontrolle der Organe macht er nach wie vor in der Schweiz. «Weil ich nicht krank bin, muss ich die Kontrollen und Analysen hier jeweils selber bezahlen.» Wenn sein Blut bezüglich der Funktion seiner Organe, der vorhandenen Vitamine und Mineralstoffe kontrolliert wird, kostet das Marcio alle sechs Monate etwa 950 Franken. 

Beim Brasilianer, der seit 23 Jahren mit seinem Mann zusammenlebt, haben sich erste Erfolge gezeigt. Seit Ende November hat er fünf Kilogramm verloren. Dies aber nicht nur einfach wegen der Fett-weg-Spritze; auf Rat seiner brasilianischen Ärzte hält er auch eine strikte Diät und macht fünf Mal pro Woche ein halbstündiges Cardio-Training. Laut Marcio Enz verliert man mit der Spritze ohne Fitness und Ernährungsumstellung nicht nur Fett, sondern auch Muskeln. Die Sache nehme deshalb ein wenig mehr Zeit in Anspruch: «Da ich jetzt Muskeln aufbaue, verliere ich natürlich weniger Gewicht, als ich eigentlich möchte – aber immerhin geht es den Fettreserven langsam an den Kragen.»

Der Fachkosmetiker und Haarentferner glaubt, dass Männer, die nach 45 weiterhin einen schlanken Körper haben möchten, nicht nur Training, eine andere Ernährung und zusätzliche Vitamine, sondern «vielleicht auch noch Spritzen dazu brauchen»,wie er augenzwinkernd sagt. Er habe sich nun auf diesen Pfad begeben und bezahlt für Mounjaro zwischen 400 und 500 Franken pro Monat.

In seiner Heimat Brasilien ist der Umgang mit verschreibungspflichtigen Medikamenten, die eigentlich zur Behandlung von Typ-2-Diabetes vorgesehen sind, dann aber zur Gewichtsreduktion eingesetzt werden, viel larger als in der Schweiz. 

Nicht als Abnehmspritzen zugelassen 

Ozempic dient bei uns als Antidiabetikum, zur Gewichtsreduktion gibt es das identische Mittel Wegovy. Die Präparate werden heute parallel eingesetzt, da ihre Verfügbarkeit sehr eingeschränkt ist. Ärzte sind angewiesen, Ozempic für Diabetiker zu reservieren, da diese in jedem Fall auf die Präparate angewiesen sind.

Die Kostenübernahme der Krankenkassen für Ozempic ist nur garantiert, falls es sich um eine korrekte Verschreibung handelt; nämlich zur Behandlung von Diabetes. Falls keine solche Erkrankung vorliegt, werden die Kosten nicht übernommen. Bei Wegovy und Mounjaro besteht hingegen eine Zulassung zur Behandlung von Übergewicht. Dort benötigt es aber eine Kostengutsprache der Krankenkasse; in der Regel verlangt diese ein klares Vorliegen einer Adipositas, das heisst Fettleibigkeit, und danach wird auch eine Erfolgsüberwachung verlangt. Ozempic wird für Leute mit zu viel Speck auf den Rippen hierzulande in keinem Fall bezahlt, da es zur Gewichtsreduktion nicht zugelassen ist. 

Der selbständige Beauty-Salon-Betreiber rät, dass man zu einem guten Arzt gehen sollte. Marcio weiss auch, dass die chemischen Produkte Nebenwirkungen wie Depressionen verursachen können. Selber habe er aber bisher keine solche wahrgenommen.

Jeder Mensch reagiert auf chemische Stoffe aber wieder anders. Bei den Wirkstoffen Semaglutide, Tirzepatid oder Liraglutid, die in den Fett-weg-Spritzen enthalten sind, handelt es sich um hochpotente Typ-2-Antidiabetika, welche primär die Insulinausschüttung anregen. «Damit bewirken sie einen schwerwiegenden Eingriff in den Stoffwechsel», erklärt Apotheker Urs Humbel. 

Bei mehr als 40 Prozent der Anwendenden stellten sich unangenehme Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Magen-Darmbeschwerden bis hin zu Entzündungen der Bauchspeicheldrüse ein. «Letzteres kann lebensbedrohend sein – oder dazu führen, dass man selber zum Diabetiker wird», führt der Experte weiter aus.

Humbel hat während 25 Jahren seine eigene Apotheke im Kanton Aargau geführt. Heute ist er nur noch zwischendurch berufstätig und geniesst das Reisen und das Pensioniertenleben. Ab und zu übernimmt er aber noch Stellvertretungen in diversen Apotheken und begleitet berufspolitische Projekte. 

Der 63-Jährige war nie schlank, hat aber innerhalb der letzten zehn Jahre die 100-Kilogramm-Marke überschritten. Heute pendelt sein Gewicht zwischen 105 und 110 Kilogramm, wie der 1,82 Meter grosse Mann offen gegenüber DISPLAY erklärt. «Mein Ziel ist es, die 100-Kilo-Marke nach unten wieder zu durchbrechen – allerdings sicher ohne Spritzen.» Funktionieren müsse dies mit Dis-
ziplin, gesunder Ernährung, wenig Alkoholkonsum und sportlicher Betätigung. 

Null Bock auf Nebenwirkungen

Auf mögliche Begleiterscheinungen der Fett-weg-Spritzen angesprochen, wird Urs Humbel sehr ernst. Dies, weil man zu diesen Mitteln, die zur Gewichtsreduktion eingesetzt werden, aktuell keine Langzeitstudien kennt: «Es wäre eine Illusion zu glauben, dass diese Therapien keine Langzeitschäden bewirken – bisher kennt man sie einfach noch nicht.» Allerdings gibt es laut dem Apotheker bereits erste Anzeichen wie psychische Veränderungen, frühzeitige Alterung der Gesichtshaut oder auch Erektionsstörungen. Wer diese Präparate ohne wesentliche Umstellung des Lebens anwendet – hier spricht er mehr Bewegung und eine andere Ernährung an – müsse diese Spritzen lebenslänglich anwenden. Bei einer Absetzung nehme man automatisch wieder zu. «Ich hätte deshalb auf jeden Fall keinen Bock darauf», sagt der arzneikundige Aargauer klipp und klar. 

Urs Humbel erinnert sich noch gut an den Hype um das Medikament Propecia gegen erbbedingten Haarausfall bei Männern mit dem Wirkstoff Finasterid, welches in den 90er-Jahren lanciert wurde. «Zuerst in den Himmel gelobt – und schliesslich insbesondere wegen des signifikanten Rückgangs des Ejakulatvolumens mindestens in der Community in Verruf geraten», erinnert er an mögliche Nebenwirkungen von Medikamenten. Heute verkauft der Apotheker kaum noch «Finasterid 1mg Tabletten», obwohl der Preis deutlich gesunken ist. Auch dieses Präparat müsse man bei entstehender Glatzenbildung wie die Fett-weg-Spritze lebenslang anwenden.

Aufgepasst bei Depressionen

Ein DISPLAY-Leser, der mithilfe einer Abnehmspritze ebenfalls überschüssige Pfunde loswerden wollte, bestätigt den Teil mit der psychischen Veränderung. Der Mann, der anonym bleiben möchte, habe sehr schnell 15 Kilogramm abgenommen, musste dann aber die Spritzenbehandlung wieder abbrechen. Dies, weil er psychisch instabil war und deswegen auch Medikamente gegen Depressionen einnahm. Sein geistiger Zustand verschlechterte sich, weshalb er solche nicht zugelassenen Fett-weg-Spritzen mit dieser Erfahrung nur gefestigten Personen empfehlen würde – wenn überhaupt.

Urs Humbel kennt viele Kundinnen und Kunden, die Wegovy, Mounjaro & Co. verwenden und mindestens einen kurzfristigen Erfolg verzeichnen konnten. «Ich bin aber überzeugt, dass die Wenigsten diesen Erfolg durchhalten werden.» Eine solche Prozedur funktioniere nur mit gesunder Ernährung und sportlicher Betätigung – «oder indem man zu seinem Ranzen steht und trotzdem glücklich lebt», so sein persönliches Rezept.

Der Apotheker lebt seit mehr als 25 Jahren mit seinem Mann in Wettingen zusammen. In früheren Jahren hatte er aufgrund seines Übergewichts eigentlich nie Schwierigkeiten in der Gay-Szene gehabt. «Allerdings gehe ich davon aus, dass es heute im Social-Media-Zeitalter schwieriger geworden ist.» Dies, weil man sich auf den entsprechenden Plattformen wohl eher in eine Scheinwelt begebe. «Früher hatte man die Gelegenheit, mit einem Blick oder mit einem kurzen Gespräch zu punkten, während sich heute viele so präsentieren, wie sie eigentlich gar nicht sind.» Dies erschwere die Verständigung sicher.

An die Diabetiker:innen denken

Bedingt durch die grosse weltweite Nachfrage sind sämtliche Abnehmspritzen aktuell nicht problemlos verfügbar. Die Herstellerfirmen kämpfen mit andauernden Lieferproblemen. Deshalb erhalten viele Personen anstelle der Präparate zur Gewichtsreduktion Alternativen, die eigentlich nur als Antidiabetika zugelassen sind, wie beispielsweise Ozempic oder Victoza. «Somit leiden vor allem Diabetiker, die auf diese Präparate angewiesen sind, an den Engpässen», gibt der Apotheker zu bedenken. Weil alle Präparate ziemlich teuer sind, sollte man unbedingt abklären, welche Therapie von den Krankenkassen übernommen wird und was man selber berappen muss.

Schliesslich gibt es auf dem illegalen Markt auch zahlreiche Fälschungen. «Falls es gelingt, über das Internet solche Präparate zu beziehen, so handelt es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um Fälschungen.» Diese unterliegen keiner Kontrolle und sind laut Urs Humbel «im besten Fall» wirkungslos. «Hände weg davon – es sei denn, man möchte gerne betrogen werden.»

Vorsicht vor dem JoJo-Effekt

Auch adipöse Patienten nehmen laut dem Experten durch die Anwendung der Spritze ab. Ohne Umstellung der Lebensgewohnheiten würden schwer übergewichtige Menschen nach Absetzen der Therapie aber auch sofort wieder zunehmen. Das Gleiche gilt auch für Personen, die ohne Änderung der Lebensumstände nur ein paar Kilo abnehmen wollen. «Diese Kilos werden zurückkommen und allenfalls noch ein paar obendrauf analog dem JoJo-Effekt bei Diäten.» 

Marcio Enz verhalte sich – falls er langfristig durchhalte – vorbildlich, indem er seine Ernährung umstelle und regelmässig Sport betreibe. «So ist es möglich, dass er bei Erreichen des Zielgewichtes die Spritze absetzen kann, ohne wieder zuzunehmen.» Bei diesem Beispiel sieht Humbel einen Sinn in der Anwendung, weil sich durch den schnellen Erfolg die Motivation steigere, mit Sport und gesunder Ernährung fortzufahren. Die Risiken langzeitiger Nebenwirkungen würden jedoch bestehen bleiben. «Aus eitler Gay-Sicht würde mich insbesondere die frühzeitige Alterung der Gesichtshaut beunruhigen», teilt der Spezialist offen seine persönliche, grösste Befürchtung was die Nebenwirkungen der Fett-weg-Spritzen-Behandlungen betrifft. 

 

 


Pflanzliche Alternativen zur Fett-weg-Spritze?

Wissenschaftler:innen versuchen schon lange nach Möglichkeiten, den Blutzuckerspiegel zu stabilisieren, den Stoffwechsel zu verbessern und das Halten eines gesunden Gewichts zu erleichtern. Neben den erwähnten chemischen Präparaten gibt es immer mehr auch natürliche Alternativen auf dem Markt. So wird beispielsweise Berberin als «Ozempic der Natur» bezeichnet. Auch auf TikTok wird immer wieder ein neues «Huusmitteli» gegen zu viele Pfunde gefeiert. Unter dem Hashtag #oatzempic wird dort ein dickflüssiger Drink aus Haferflocken, Limettensaft und Wasser promoted. Viele «natürliche» Stoffe lassen sich aber auch in der Apotheke oder der Drogerie kaufen. Prinzipiell gibt es laut dem Apotheker Urs Humbel pflanzliche Wirkstoffe, die einen günstigen Einfluss auf den Zuckerhaushalt haben; dazu gehören beispielsweise Zimt, Berberin oder die weisse Maulbeere. Da Präparate mit solchen Inhaltsstoffen aber fast immer als Medizinprodukt und nicht als Medikament registriert sind, würden wichtige medizinische Studien, welche die Wirksamkeit belegen und auch die Risiken auflisten, oft fehlen.

 

Von Mark Baer | Illustrationen Zakaria Battikh