I want to ride my bicycle 

Mein Velodieb wurde verhaftet. Dank der Anklageschrift habe ich alle seine persönlichen Daten. Schaffe ich es, mich mit meinem Dieb anzufreunden, um mein Velo zurückzubekommen? 

Mein Herz rast. Ich halte einen eingeschriebenen Brief der Staatsanwaltschaft in den Händen. Habe ich irgendwas verbrochen? Haben sie rausgefunden, dass ich meinen Netflix-Account teile? Weder noch. Der Brief beinhaltet eine Anklageschrift. Was sich als gute Nachricht herausstellt, denn mir wird mitgeteilt, dass mein Velodieb gefasst wurde. Nebst meinem Drahtesel hat er noch 73 weitere gestohlen. 

Es ist das erste Mal, dass ich so ein Schreiben in der Hand halte. Die fingerdicke Anklageschrift beinhaltet den Namen, die Adresse und das Geburtsdatum des Straftäters. Ich google ihn und stosse auf sein bilderloses Facebook-Profil. Er mag Oliver Pocher, Kollegah und Capital Bra. Sprich, ein kulturinteressierter junger Mann. Ich schicke ihm eine Freundschaftsanfrage. Als ich weiter in der Anklageschrift blättere, wird es richtig interessant. Da der Täter auch wegen Nötigung angeklagt ist, befindet sich im hinteren Teil des Dokuments ein Abdruck seiner iMessage-Nachrichten inklusive Handynummer. Die füge ich auf Whatsapp hinzu. Auf seinem Profilbild sieht er extrem jung aus. Er trägt teure Markenklamotten und schräg über die Brust eine Bauchtasche. In seiner Statuszeile steht: «Nichts auf der Welt ist gratis.» Das stimmt so nicht ganz. Mein Velo war’s.

Ausländer oder Schweizer?

Mit einer Kollegin treffe ich mich in einem Café. Sie meint, ich könne mich glücklich schätzen, dass der Täter gefunden wurde. In der Regel würden Fahrraddiebstähle nicht aufgeklärt. «War es ein Ausländer?», fragt sie mich interessiert. «Spielt das eine Rolle?», entgegne ich und füge hinzu: «Seinen Namen werde ich dir nicht verraten. Ich weiss sowieso nicht, wie man ihn ausspricht.» 

Durch ein Telefonat mit der Staatsanwältin erfahre ich, dass das Velo unauffindbar sei. Sie rät mir, auf Schadensersatz zu klagen. «Die Deliktsumme beträgt über 100‘000 Franken und der Täter hat aktuell kein Einkommen, da er im Gefängnis sitzt. Aber probieren können Sie es trotzdem. Und falls Sie sich ein neues Velo kaufen, investieren sie ruhig ein bisschen Geld in ein gutes Schloss.» Frustriert lege ich auf und überprüfe direkt im Anschluss meine Facebook-Benachrichtigungen. «Mist», denke ich. Wir sind noch immer keine Freunde. Aber dennoch besteht die Möglichkeit, den Täter kennenzulernen und so irgendwie an mein Velo zu kommen. Ich muss einfach nur zur Gerichtsverhandlung. 

Die Reumut in Person

Wir sind zu zweit im Zuschauerraum am Gericht, eine Dame und ich. Ich starte einen Smalltalk-Versuch mit ihr. «Hat der kleine Pisser auch ihr Velo gestohlen?», frage ich sie grinsend. «Nein», entgegnet sie mit rotem Kopf. «Ich bin seine Tante. Ich bin hier zur moralischen Unterstützung.» Während ich vor Scham im Boden versinken möchte, wird der Angeklagte in den Saal geführt. Er trägt ein weisses Hemd, die Haare sind zurückgegelt. Innerhalb der nächsten Stunde beteuert er mehrfach, wie leid ihm alles tue. 

Er habe als Kind nie Liebe von seinen Eltern erhalten, sei wegen falscher Freunde in die Drogensucht abgerutscht, habe seine Sucht mit Diebstählen finanziert. Dann sei alles aus dem Ruder gelaufen. Er habe seine Beziehung an die Wand gefahren, sich mit seiner Familie verstritten und seinen Job verloren. Wie oft ihn seine Eltern bisher im Gefängnis besucht hätten, möchte der Richter von ihm wissen. «Noch gar nicht», sagt er mit tränenerfüllter Stimme. Mittlerweile schluchzt auch seine Tante neben mir. Selbst ich bemitleide den Kerl. Er scheint reumütig, möchte mit Mitte 20 sein Leben in den Griff bekommen. 

In der Pause verlasse ich die Verhandlung. Den Traum, dass mein Velodieb und ich beste Freunde werden, zusammen auf einem Tandem mit Picknickkorb in Richtung Sonnenuntergang radeln, muss ich begraben. Dass mein Fahrrad den Weg zurück zu mir findet, ist auch eher unrealistisch. Mittlerweile habe ich mir darum ein neues gekauft, inklusive eines Schlosses für mehr als 100 Franken.Der Preis hat mich zwar gereut, aber dafür kriege ich garantiert keine eingeschriebenen Briefe der Staatsanwaltschaft mehr. Ausser, die finden das mit dem Netflix-Account heraus.