«Kein echter Sex, aber echte Intimität»

DISPLAY-Interview mit den Schauspiel-Stars Ben Whishaw und Franz Rogowski zu «Passages», der am Zurich Film Festival gezeigt wird. Ausserdem präsentieren wir die weiteren queeren Highlights am ZFF.

Von Dieter Osswald 

Die Interviewpartner

Franz Rogowski, 37, gehört zu den grössten Schauspieltalenten seiner Generation. «In den Gängen» brachte ihm den Deutschen Filmpreis. Seine Leistungen in «Transit», «Undine» oder «Luzifer» bescherten ihm beste Kritiken. Für das Schwulen-Drama «Grosse Freiheit» erhielt er den Deutschen Schauspielpreis.

Der offen schwule Brite Ben Whishaw, 42, spielte in «Das Parfüm», in «Cloud Atlas» oder der queeren Lovestory «Lilting». Seit zehn Jahren gibt er den Erfinder Q in den James Bond-Filmen, beim letzten 007 sogar mit offiziellem Partner.

Rogowski und Whishaw spielen nun in «Passages» ein Ehepaar, das in eine Krise gerät, als sich einer der beiden in eine Frau verliebt. Das Drama von Ira Sachs lief auf der Berlinale, dort trafen wir die beiden Darsteller zum Gespräch.   

DISPLAY: Kannten Sie sich bereits vor den Dreharbeiten?
Rogowski: Ich kannte Ben lediglich von der Kino-Leinwand und bin ein grosser Bewunderer von ihm. Er ist ein ausgesprochen talentierter Schauspieler, den ich sehr liebe. Er verfügt über so viele Fähigkeiten, die ich selbst leider nicht besitze.

Wie intensiv trafen Sie sich vor dem Dreh?
Whishaw: Wir haben uns einmal in einem Café getroffen, das war aber keine sehr lange Begegnung. Zunächst sass ich dort mit Regisseur Ira Sachs zusammen. Als später noch Franz hinzukam ist Ira gegangen, um uns beide alleine plaudern zu lassen. Franz war allerdings ziemlich müde, weil er gerade von Dreharbeiten zurückgekommen war. Wir haben uns da nicht sehr lange unterhalten. Auch später haben wir nie geprobt oder haben nach dem Dreh viel zusammen unternommen. 

Rogowski: Stimmt, nach dieser sehr kurzen Begegnung in einem Café haben wir uns direkt in diese intime und dramatische Beziehung begeben! (Lacht) Vielleicht hat das zu dem Spiel dazugehört. Man muss sich einfach vertrauen. Und den Mut haben, sich vor einer Kamera kennenzulernen. Intimität lässt sich nicht vorbereiten. Ab einem bestimmten Moment muss man sich darauf einfach einlassen.

Auf der Berlinale wurde der recht neue Beruf des Intimacy Coordinators gefeiert. Macht das die intime Sache für Darsteller einfacher? Oder geht es ohne Berater genauso gut?
Rogowski: Ich weiss zu wenig über diese aktuelle Diskussion, um als Experte aufzutreten. Ich finde, wenn man einen Coach benötigt, um mit seinem Regisseur über Intimität zu sprechen, dann stimmt doch bereits etwas nicht. Das hat sicher mit all diesen neuen Formaten zu tun, die pausenlos produziert werden. Und bei denen der Regisseur selbst zu einer Ware der Produktion wird. Er muss in kurzer Zeit viele Szenen abliefern und es herrscht ständig eine Hierarchie, an deren Ende der Schauspieler eben liefern muss. Bei den Projekten, für die ich mich entscheide, braucht es keinen Intimacy Coach, denn da sind Regisseur und Schauspieler ihr eigener Coach.  

 

Was war die erste Szene beim Drehbeginn?
Whishaw: Unsere erste Szene fand im Bett statt! (Lacht)
Rogowski: Und wir hatten einen Streit!
Whishaw: Dann nahmen wir die Viagra-Pillen und hatten den nächsten Streit.
Rogowski: Ich war nicht sicher, ob ich eine echte Pille erwischt hatte oder das Placebo aus Zucker. Da war eine ganze Schachtel und eine der Viagra-Pillen wurde durch eine harmlose Tablette ersetzt. Deswegen habe ich mich anderthalb Stunden lang gewundert, welche Pille ich genommen hatte.

Whishaw: Das war schon sehr beängstigend mit dieser Szene. Zu diesem Zeitpunkt kannten wir uns ja kaum und wir kannten auch unseren Regisseur Ira Sachs noch nicht sehr gut. Aber es gibt eben keine Abkürzung für die Intimität, man muss einfach damit anfangen und alle müssen dafür bereit sein. Bei uns ging das sehr flott und wir hatten schnell ein entspanntes Verhältnis zu einander. Das passiert einfach – oder es passiert eben nicht. Das lässt sich kaum vorhersagen.

Wie wurden die Sex-Szenen bewerkstelligt?
Rogowski: Es gab keine Proben für die Sex-Szenen. Es war unser erstes Mal! (Lacht) Wir alle waren ein bisschen nervös, inklusive Ira unserem Regisseur. Zugleich war zu spüren, wie aufgeregt er war, diese Sex-Szene zu inszenieren. Für uns war das kein echter Sex, aber es war echte Intimität. Das ist eine sehr dünne Grenze, aber darum geht es beim Schauspiel schliesslich. Man ist zufrieden, wenn es vorbei ist, wegen der ganzen Nervosität. Zugleich ist das so real, dass man es fast nicht vortäuschen kann. Eine Lüge kann bisweilen eine sehr grosse Aufgabe bedeuten!

Whishaw: Wenn ich mir diese Sex-Szene heute auf der Leinwand ansehe, ist das eine völlig andere Erfahrung als beim Drehen. Für Ira ging es sehr um das Inszenieren von Körpern. Damit ermöglicht er dem Publikum, an diesem Moment teilzuhaben – was im Kino sonst nicht sehr häufig vorkommt.

Welche Rolle spielt die Körperlichkeit bei Ihrem Schauspiel?
Rogowski: Ich habe eine Tendenz, möglichst viel in eine Körperlichkeit zu übersetzen, bei der nicht viel erklärt werden braucht. Manchmal funktioniert das, bisweilen klappt es nicht. Jedenfalls kämpfe ich immer sehr um solche Details, in der Hoffnung, dass sie spürbar werden. Wenn ich manche Szenen auf der Leinwand sehe, erinnere ich mich sehr deutlich, wie stark ich da gekämpft hatte – und das Ergebnis bleibt völlig unsichtbar! (Lacht)

Ihre Figur Martin wurde schon häufig von ihrem Partner betrogen. Weshalb kommt es nun zum Ende dieser Beziehung?
Whishaw: Es war ein Punkt erreicht, an dem es einfach zu schmerzhaft, zu ermüdend und destruktiv für alle Beteiligten wurde. Irgendwann wurde es schwierig, die Beziehung dieser drei Menschen noch am Laufen zu halten. Sie funktionierte leider nicht mehr. Zugleich war diese gemeinsame Reise sehr berauschend und aufregend für Martin, so seltsam und unberechenbar das alles auch gewesen ist. Vieles muss das Publikum selbst entscheiden, gerade das macht den Film für mich so spannend.

Ihr Q im letzten Bond-Film hat nun ganz selbstverständlich einen Mann. Ist das ein kleiner Schritt für mehr Akzeptanz, 007 wird schliesslich auch in homophoben Ländern gerne gesehen…
Whishaw: Ja, vielleicht. Ich weiss es nicht mit Sicherheit, aber ich vermute, das stimmt schon. Ich schätze, das ist eine gute Sache. Ich weiss nicht so recht, was ich über diesen Film sagen soll oder diesen Aspekt. Ja, es ist eine gute Sache!

Ihre Figur des Regisseurs will seine Umgebung ständig kontrollieren, kennen Sie solche Typen wie diesen Tomas?
Rogowski: Das gilt nicht nur für Regisseure. Viele Menschen möchte diese Kontrolle über ihr Leben haben. Und dafür verpassen sie die besten Momente, die das Leben bieten kann. Diese Tragik kenne ich auch aus eigener Erfahrung. Ich möchte unbedingt meine Existenz kontrollieren, und dann misslingt es mir gründlich. Da mache ich mir so viele Gedanken, wer ich sein möchte? Wer ich sein sollte? An einem einzigen Tag kann man so vieles sein. Aber oft hält man an etwas fest, das man eben gerade nicht ist. Solche persönlichen Kämpfe im Leben kenne ich, deswegen habe ich sie mit meiner Figur geteilt.


Die queeren Highlights am ZFF

Passages

Eine leidenschaftliche Nacht mit der jungen Lehrerin Agathe verändert das Leben des verheirateten Tomas drastisch. Als aus dem One-Night-Stand eine innige Affäre entsteht und sich sein Ehemann Martin ebenfalls anderweitig auslebt, schleicht sich Eifersucht in die Ehe. Sich zwischen Agathe und Martin zu entscheiden, scheint für Tomas unmöglich zu sein. Wir begleiten ihn bei seinem Liebesdilemma und auf der Entdeckungsreise zu seinen intimsten Wünschen. Regisseur Ira Sachs hat die Hauptrollen mit Adèle Exarchopoulos, Franz Rogowski und Ben Whishaw grossartig besetzt und so ein erotisches Beziehungsdrama geschaffen, das zum Nachdenken anregt: Sind wir in der Lage, mehr als einen Menschen aus tiefstem Herzen zu lieben und mit ihm eine romantische Beziehung zu führen?

Gala Premieren | Frankreich, Deutschland / 2023 | Länge 92 Min.
Regie: Ira Sachs | Besetzung: Franz Rogowski, Ben Whishaw, Adèle Exarchopoulos, Erwan Kepoa Fale
https://zff.com/de/filme/passages

Maestro

Leonard Bernstein war Humanist, Ehemann, Vater und einer der grössten musikalischen Meister seiner Zeit. Die Kompositionen des Amerikaners bestechen bis heute durch ihre Formenvielfalt. Wie kein Zweiter trat Bernstein leidenschaftlich vor Orchester. Doch wie bei vielen Genies gibt es Brüche hinter der Fassade des Dirigenten und Komponisten. Bernstein verbringt sein Leben an der Seite einer Frau, obwohl er homosexuell ist – eine Zerreissprobe für ihre Ehe. Das bewegte Leben des «West Side Story»-Schöpfers wird von Regisseur und Hauptdarsteller Bradley Cooper auf die Leinwand gebracht, der Bernstein an der Seite von Carey Mulligan oscarverdächtig verkörpert. Fünf Jahre nach A STAR IS BORN liefert Cooper mit MAESTRO einen der meisterwarteten Filme des Jahres.

Gala Premieren | USA / 2023 | Länge 129 Min.
Regie: Bradley Cooper | Besetzung: Carey Mulligan, Bradley Cooper, Matt Bomer, Maya Hawke, Sarah Silverman
https://zff.com/de/filme/maestro


War er nun bisexuell? Oder doch eher ein schwuler Mann, der trotzdem seine Ehefrau (und die Mutter seiner Kinder) innig liebte? Auf eine konkrete Festlegung der sexuellen Identität von Ausnahme-Dirigent und -Komponist Leonard Bernstein verzichtet «Maestro», der neue Film von und mit Bradley Cooper. Doch keine Sorge: Dass der «West Side Story»-Schöpfer vor, während und nach seiner Ehe Sex mit Männern (darunter Klarinettist David Oppenheim, gespielt von Matt Bomer) hatte, wird hier nicht ausgeblendet. Selbst wenn die aufrichtige, aber eben auch komplexe Beziehung zu seiner Gattin Felicia Montealegre das eigentliche Zentrum der Geschichte darstellt. Hier und da hätte «Maestro» dabei noch etwas tiefer in die Psychologie des egomanischen Showmans vordringen können, und einmal mehr neigt Cooper dazu, sich selbst sehr eitel in Szene zu setzen. Aber Carey Mulligan läuft an seiner Seite zur ganz grossen Form auf! Und die Frage, ob Coopers Nasenprothese daneben sei oder nicht, wurde ja schon ausgiebig diskutiert.


The Line

Tom ist Teil einer Studentenverbindung. So kommt er in Kontakt mit der Welt der Finanzen und Politik, obwohl er selbst aus einfachen Verhältnissen stammt. Einziger Haken: Die meisten seiner Kommilitonen sind priviligierte Männer aus reichem Elternhaus. Das Ausleben konservativer Werte und rassistische Kommentare gehören zu ihrem Alltag. Tom zieht unauffällig mit, bis er Annabelle kennenlernt. Seine Kollegen tun sie als schwarze, intellektuelle Homosexuelle ab und stellen Tom vor eine folgenschwere Entscheidung: Schafft er es endlich, gegen den Strom zu schwimmen? Ein packendes Drama in der faszinierenden Welt von Studentenverbindungen. 

Hashtag #Masculinity | USA / 2023 | Länge 100 Min.
Regie: Ethan Berger | Besetzung: Alex Wolff, Lewis Pullman, Halle Bailey, Austin Abrams, Angus Cloud, Scoot McNairy, John Malkovich, Bo Mitchell, Denise Richards
https://zff.com/de/filme/the-line

Queendom

Gennadyi ist aus dem fernöstlichen Magadan nach Moskau gezogen. Dort tritt Gena öffentlich als Dragqueen Gena Marvyn auf, um für künstlerische Freiheit und gegen die Unterdrückung der LGBTQ+ Community zu demonstrieren. Dabei wird Gena immer wieder angegriffen und schliesslich verhaftet. Der Dokumentarfilm zeigt den Aktivismus der charismatischen Hauptfigur, folgt ihr aber auch in ihre entlegene Heimat in der Provinz und zeigt das schwierige Verhältnis, das Gennadyi zu seinen Grosseltern hat. Die Regisseurin Agniia Galdanova gibt uns mit diesem Dokumentarfilm Einblick ins raue Klima von Putins Russland, wo die Toleranz gegenüber Künstlerinnen und Künstlern und freiheitsliebenden Menschen, die nicht dem Idealbild der Regierung entsprechen, fehlt.

Dokumentarfilm Wettbewerb | USA, Frankreich / 2023 | Länge 102 Min.
Regie: Agniia Galdanova | Besetzung: Gena Marvin
https://zff.com/de/filme/queendom

Transition

Jordan Bryon bewegt sich auf dünnem Eis. Käme seine queere Identität ans Licht, befände er sich in Lebensgefahr. Zu der Zeit, in der die Taliban 2021 erneut die Macht in Afghanistan übernehmen, befindet sich der australische Filmemacher mitten in der Geschlechtstransition. Als Journalist für die «New York Times» dokumentiert er den Alltag der islamistischen und transfeindlichen Taliban, obwohl er sich damit selbst mit einem moralischen Dilemma konfrontiert. Der Dokumentarfilm zeigt seine Berichterstattung hautnah und auf eine aufwühlende Weise und bietet einen intimen Einblick in den emotionalen Prozess seiner Geschlechtsanpassung.

Hashtag #Masculinity | USA / 2023 | Länge 89 Min.
Regie: Jordan Bryon, Monica Villamizar | Besetzung Jordan Bryon, Farzad Fetrat, Kiana Hayeri
https://zff.com/de/filme/transition

Solo

Simon ist ein aufstrebender Star der Montrealer Drag-Szene. Während er glaubt, mit seinem neuen Schwarm Oliver eine elektrisierende Liebesgeschichte zu erleben, entwickelt sich zwischen ihnen schon bald eine toxische Dynamik. Zeitgleich versucht er verzweifelt, eine Verbindung zu seiner Mutter aufzubauen. Kann er die beiden Beziehungen noch retten oder muss er sie loslassen? Die Regisseurin Sophie Dupuis untersucht die Abhängigkeit von Menschen in toxischen Beziehungen und feiert DragKunst als Denkmal für Freiheit. Das kanadische Liebesdrama überzeugt durch extravagante Kostüme und Choreografien, hinter denen monatelange Arbeit steckt.

Hashtag #Masculinity | Kanada / 2023 | Länge 101 Min.
Regie: Sophie Dupuis | Besetzung: Félix Maritaud, Théodore Pellerin, Anne-Marie Cadieux, Vlad Alexis, Tommy Joubert, Alice Moreault, Jean Marchand
https://zff.com/de/filme/solo