Die Gesellschaft wird immer diverser, immer mehr Länder führen die Ehe für alle ein und weltweit gibt es Fortschritte bei der rechtlichen Gleichstellung der queeren Community. Gleichzeitig werden Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität immer noch diskriminiert und sind Anfeindungen, Gewalt oder willkürlichen Verhaftungen ausgesetzt. Auch in der Schweiz hat sich die Zahl der LGBTQI*-feindlichen Straftaten in diesem Jahr fast verdoppelt.
Von Christian Gersbacher
Rechtspopulistische Bewegungen in Europa nutzen LGBTQI*-feindliche Rhetorik, um politisches Kapital zu schlagen. In den USA gab es in diesem Jahr fast 500 Gesetzesinitiativen, die sich gegen die LGBTQI*-Community richten. In Uganda ist seit diesem Sommer die Todesstrafe für homosexuelle Handlungen möglich. Anlässlich des Internationalen Tages der Menschenrechte am 10. Dezember hat Display mit Julia Ehrt, Direktorin von ILGA World, einen Blick auf die aktuelle Situation der LGBTQI*-Community weltweit geworfen und über aktuelle Erfolge, Herausforderungen und Perspektiven für queere Menschen gesprochen.
10. Dezember: Tag der Menschenrechte
Der Tag der Menschenrechte wird jährlich am 10. Dezember gefeiert. Damit wird an die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 erinnert.
ILGA: Kampf für die Rechte der Community
ILGA World – die Internationale Lesben-, Schwulen-, Bisexuellen-, Trans- und Intersexuellenvereinigung – mit Sitz in Genf ist ein weltweiter Dachverband von queeren Organisationen aus mehr als 160 Ländern, die sich für die Menschenrechte von LGBTQI*- Personen einsetzen. ILGA World veröffentlicht unter anderem Berichte und Forschungsergebnisse zur Menschenrechtssituation von LGBTQI*-Personen weltweit und verfügt über einen offiziellen Beraterstatus bei den Vereinten Nationen.
DISPLAY: Frau Ehrt, Sie sind seit 2021 Geschäftsführerin von ILGA World. Was motiviert Sie, sich im grössten internationalen LGBTQI*-Dachverband für die Rechte von queeren Menschen einzusetzen?
Julia Ehrt: Die letzten 20 Jahre meines Lebens habe ich mich für die Rechte von LGBTQI*-Personen eingesetzt. Ich war Geschäftsführerin von Transgender Europe und Programmdirektorin von ILGA World, bevor ich im November 2021 Geschäftsführerin wurde. Die Leitung eines globalen Dachverbands wie ILGA World ist für eine Aktivistin wie mich ein absoluter Traumjob, der es mir ermöglicht, meine Leidenschaft für den Kampf um die Rechte queerer Menschen zu meinem Beruf zu machen. Es ist sehr spannend, auf internationaler Ebene aktiv zu sein, aber auch nicht immer einfach. Die globale LGBTQI*-Bewegung ist sehr vielfältig und breit gefächert. Wir beschäftigen uns mit Themen, von rechtlichen Fragen wie der Todesstrafe bis hin zur Forderung nach gleichen Rechten in der Ehe für alle.
POSITIVE ENTWICKLUNGEN
Welche bedeutenden Fortschritte haben Sie in diesem Jahr in Bezug auf die internationalen Menschenrechtssituation für LGBTQI*-Personen beobachtet?
Es gibt im rechtlichen Bereich einige erfreuliche Fortschritte.
- Mehrere Länder haben die Ehe für alle eingeführt, zum Beispiel Slowenien als erstes postkommunistisches Land in Europa oder auch Andorra.
- In den Niederlanden wurde eine Verfassungsänderung verabschiedet, die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung ausdrücklich verbietet.
- 2023 wurden homosexuelle Handlungen in Singapur und Mauritius entkriminalisiert.
- Auch in Spanien gab es in diesem Jahr sehr positive Entwicklungen. Hier wurde nach monatelangen intensiven, teils aggressiven Diskussionen ein umfangreiches Gesetzespaket zugunsten von queeren Menschen verabschiedet, das unter anderem Trans*-Menschen mehr Selbstbestimmung einräumt und Konversionstherapien verbietet. Das ist natürlich nur die rechtliche Situation, die nichts darüber aussagt, wie LGBTQI*-Personen in der Gesellschaft tatsächlich behandelt werden oder Anfeindungen erleben. Das sehen wir zum Beispiel, wenn wir uns im Gegenzug die Zahlen der steigenden Hasskriminalität gegenüber queeren Menschen in ganz Europa anschauen.
RÜCKSCHRITTE IN DEN USA
Welche aktuellen Herausforderungen sieht ILGA World für die globale queere Community?
Insbesondere für Nordamerika und Europa stellen wir erstmals Rückschritte bei den Rechten von queeren Menschen fest. Dies zeigt sich auch in der zunehmenden Gewalterfahrung von LGBTQI* Personen im öffentlichen Raum. Im Jahr vor den Präsidentschaftswahlen treiben national-konservative Bewegungen den Kulturkampf in den USA voran. In einigen Bundesstaaten kam es 2023 zu einer regelrechten Flut von Anti-LGBTQI*-Gesetzen. In Russland gelten LGBTQI*-Organisationen inzwischen als extremistisch. Damit wird jeder Einsatz für die Rechte queerer Menschen in Russland kriminalisiert. In vielen Ländern werden mittlerweile queere Menschen nicht aufgrund ihrer sexuellen Handlungen kriminalisiert, sondern bereits aufgrund ihrer Identität.
Grossbritannien ist in Europa aktuell führend in der Anti-Trans*-Bewegung. In diesem Jahr hat die britische Regierung ein historisches Veto gegen ein vom schottischen Parlament verabschiedetes Gesetz eingelegt, das es Trans*-Personen erleichtern sollte, ihren Geschlechtseintrag zu ändern. Dieses Veto ist einmalig in der britischen Verfassungsgeschichte.
MINDERHEITEN ALS FEINDBILD
Sie haben einen wichtigen Punkt angesprochen. Die US-Menschenrechtsorganisation ACLU zählt US-weit allein in diesem Jahr 491 Gesetzesinitiativen, die die Rechte der LGBTQI*-Community einschränken – mehr als doppelt so viel wie im gesamten Jahr 2022. Diese reichen vom Verbot von Drag-Shows bis hin zu Einschränkungen, über queere Themen im Schulunterricht zu sprechen. Wie erklären Sie sich den Hintergrund dieser Entwicklung?
Das ist etwas, das generell nicht nur in den USA passiert, sondern auch in anderen westlichen Ländern weltweit. Sowohl in den USA als auch in Europa haben national-konservative Kräfte eine Anti-LGBTQI*-Rhetorik als gutes Mittel entdeckt, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Dabei geht es darum, Hass gegen Minderheiten zu schüren und diese als Feindbild hochzustilisieren. Queere Menschen werden zum Symbol einer neuen Gesellschaft, die traditionelle Familienwerte bedroht und einem etwas wegnehmen will. Diese Taktik funktioniert im Prinzip überall auf der Welt. Wir stellen auch fest, dass Organisationen, die aktiv Stimmung gegen queere Menschen machen, immer besser organisiert und finanziell besser ausgestattet sind.
UNSERE RECHTE VERTEIDIGEN
Bedeutet dies, dass bereits erkämpfte Erfolge unter Druck geraten und Rückschritte möglich sind?
In den letzten 40 Jahren wurde im Bereich der rechtlichen Gleichstellung von LGBTQI* viel Positives erreicht. Gerade in Zeiten zunehmender antidemokratischer Bestrebungen bleibt es wichtig, diese erreichten Rechte weiterhin zu verteidigen. Letztlich sind die Rechte queerer Menschen immer eng mit der allgemeinen politischen und demokratischen Entwicklung eines Landes verbunden.
WIDERSTAND IN UGANDA
In Uganda ist seit diesem Sommer die Todesstrafe für homosexuelle Handlungen möglich. Glauben Sie, dass dies ein Vorbild für die Gesetzgebung in anderen afrikanischen Ländern sein könnte?
Genau das befürchten wir. Umso wichtiger ist es, dafür zu sorgen, dass Uganda damit nicht durchkommt. Derzeit sind drei Verfahren vor ugandischen Gerichten anhängig, bei denen die Todesstrafe drohen könnte. Wenn diese tatsächlich vollstreckt würden, wäre das natürlich eine Katastrophe und könnte auch ein Beispiel für andere Länder werden. Glücklicherweise gibt es in Uganda selbst seit vielen Jahren eine starke LGBTQI* Bewegung und das, obwohl queere Menschen schon vor der Einführung der Todesstrafe mit jahrelangen Haftstrafen bedroht waren.
Auf internationaler Ebene gibt es verschiedene Bestrebungen, Uganda wegen der Einführung dieses Gesetzes zu sanktionieren. So hat beispielsweise die Weltbank neue Projekte mit der ugandischen Regierung auf Eis gelegt. Sanktionen sind aber nicht immer einfach, dass am Ende nicht vor allem die Zivilbevölkerung darunter leidet.
QUEERFEINDLICHE KRÄFTE IN DEN UNITED NATIONS
ILGA World verfügt bei den Vereinten Nationen über einen Beraterstatus und kann somit auch an der Arbeit der UN mitwirken. Was konnte ILGA World auf UN-Ebene für queere Menschen in den letzen Jahren erreichen?
Die Schaffung des Mandats eines unabhängigen Experten für den Schutz vor Diskriminierung und Gewalt aufgrund der sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität im UN-Menschenrechtsrat war ein grosser Erfolg. Dies hat zu einer stärkeren Wahrnehmung von LGBTQI*-Themen innerhalb der UN geführt. Leider werden queere Themen trotzdem innerhalb der UN-Gremien immer wieder angegriffen. Beispielsweise hat eine Gruppe slawischer Staaten in diesem Jahr versucht, die Abstimmung über ein Budget mit der Begründung zu verweigern, dass darin LGBTQI*-Themen erwähnt werden. Glücklicherweise konnte das verhindert werden. Auch die Verlängerung des Mandats des unabhängigen Experten für LGBTQI* im UN-Menschenrechtsrat ist immer wieder eine Zitterpartie und leider keine Selbstverständlichkeit.
Lassen Sie uns einen Blick in die Zukunft werfen. Was plant ILGA Word für 2024?
Ein grosses Highlight wird unsere ILGA-Weltkonferenz in Südafrika im Herbst sein. Mit mehr als 1000 Teilnehmer:innen wird das die grösste Konferenz werden, die wir jemals hatten. Unser Ziel ist es, die globale LGBTQI*-Community wieder näher zusammenzubringen. Der Schwerpunkt unserer Arbeit wird auch im nächsten Jahr die Entkriminalisierung von queeren Menschen sein. Spannend für die weitere Entwicklung in den USA wird sicherlich der Ausgang der Präsidentschaftswahlen im November sein. Darüber hinaus werden feministische und Trans*-Themen einen wichtigen Schwerpunkt unserer Arbeit und der Weltkonferenz bilden.
Infos zur Ilga: https://ilga.org
Aktuelle Publikationen: Im Bericht «Identities Under Arrest» vom 30.11.2023 hat ILGA World mehr als tausend Fälle aus den letzten zwei Jahrzehnten untersucht und dokumentiert, in denen Strafverfolgungsbehörden gegenüber queeren Menschen Geldstrafen, willkürliche Verhaftungen, Gefängnisstrafen – bis hin zur (möglichen) Todesstrafe anwendeten.
Foto: Ben Buckland for ILGA World