Olly Alexander «Ich liebe Nemo»

Olly Alexander, Ex-Years-&-Years-Frontmann und Gay-Pop-Ikone, hat das erste Album unter seinem eigenen Namen veröffentlicht. Auf «Polari», das nach einer alten schwulen Geheimsprache benannt ist, begeistert er mit furiosem und hyperaufregendem Dance-Pop. Am 29. März kommt der 34-Jährige mit seiner Show «Up Close And Polari» auch in die Schweiz.

 

DISPLAY: Olly, «Polari» ist ein pulsierendes, rasantes und cluborientiertes Album. War dir die Richtung, die du mit den neuen Songs einschlagen wolltest, frühzeitig klar?

Olly Alexander: Sowas von überhaupt gar nicht (lacht)! Lange Zeit wusste ich nicht, was ich hier eigentlich mache und wo es hingehen soll. Das Einzige, was ich unbedingt erreichen wollte, war, ein Album zu machen, das anders klingt als Years & Years. Denn sonst wäre die Unternehmung für mich sinnlos gewesen. Ich dachte, wenn ich schon ein Album unter meinem Namen rausbringe, dann braue ich doch am besten das purste Destillat zusammen, das ich hinbekomme. Ich wusste nur nicht wie. Ich brauchte jemanden, der mir dabei hilft. Und so stiess ich Ende 2022 auf Danny.

Du meinst den Produzenten Danny L. Harle?

Genau. Danny ist der totale Achtziger-Nerd, er hat schon mit Dua Lipa und Nile Rodgers gearbeitet, und wir haben uns toll verstanden. Wir sind beide verrückt nach der Musik der Achtziger- und frühen Neunzigerjahre, wir lieben Erasure, Mel & Kim, Janet Jackson und Kate Bush. In diese Welt sind wir tief eingetaucht, um uns mit Inspirationen überschütten zu lassen. Auch meine schwulen Helden wie Neil Tennant, Andy Bell oder Jimmy Somerville waren wichtige Einflüsse bei den neuen Songs. Mir wurde klar, dass ich ein Album machen wollte, das zum Ausdruck bringt, wie es sich anfühlt, schwul zu sein.

Du bist Jahrgang 1990. Wärst du in den Eighties gerne Kind gewesen?

Die Zeit habe ich verpasst, aber das macht nichts. Ich bin musikalisch ein Geschöpf der Jahrtausendwende – Destiny’s Child, Spice Girls, Timbaland, das war meine Musik. Und meine Mutter liebte George Michael, sie steckte mich mit dieser Liebe an. Meinen Crashkurs in Sachen Eighties-Pop hatte ich dann vor einigen Jahren, als ich «It’s A Sin» drehte. Die Serie spielt ja in den Achtzigern, und ich wurde regelrecht besessen von dieser Musik. Ich mag es, wie einfach viele dieser Songs klingen und wie experimentell und mutig sie zugleich sind. Nehmen wir nur mal Frankie Goes To Hollywood – die waren schlicht phantastisch. Diese rohe, wilde, geile Energie habe ich für «Polari» aufgegriffen. Das Album umarmt die Popkultur, die ich so sehr liebe.

Wie kommst du auf Songtitel wie «Cupid’s Bow» oder «Archangel»?

Ich bin immer schon ein Freund spiritueller oder religiöser Ikonografie gewesen. Gerade in der alten griechischen Mythologie finden sich eine ganze Reihe schwuler Subtexte und Geschichten. «Cupid’s Bow», der Amorbogen, handelt von Lust, Liebe und Begierde. Für mich ist mein Partner zugleich mein Engel, und ich stehe auf diese subversive Idee eines schwulen Engels. Die Homoerotik dieser Figur ist ja wirklich nicht zu übersehen.

«Cupid’s Bow» handelt also von dir und deinem Partner?

Ja, das tut er. Wobei meine Phantasie natürlich mit in den Song hineinspielt. Ich erforsche darin, auf Basis unserer Beziehung, Themen wie Sex, das Göttliche und die Sünde.

Und dass die katholische Kirche eine starke homosexuelle Komponente hat, bedarf wohl keiner grossen Diskussion, oder?

Wirklich nicht (lacht). Nicht ohne Grund hiess unser erstes Album mit Years & Years «Communion». Die ganzen Rituale, die Kostüme, der Pomp, die Idee, durch Transformation und Reue gerettet zu werden – viel schwuler geht es doch gar nicht. Mich haben diese Gedanken immer schon fasziniert.

Hast du jemals deine Sexualität für eine Sünde gehalten?

Ich wollte als Teenager nicht schwul sein. Dass ich sündig war, dachte ich nicht, denn ich fand Kirche faszinierend, war aber nicht gläubig. Mein Gefühl war eher das Gefühl der Scham. Ja, ich habe mich geschämt, andere Jungs gut zu finden. Das ging mir ziemlich lange so. Ich glaube oft, alles, was ich in den letzten zehn, fünfzehn Jahren gemacht habe, habe ich vor allem deshalb gemacht, um diese Scham loszuwerden.

Mit Erfolg?

Ja. Ich schäme mich nicht mehr. Heute, gerade auch wegen meiner Musik, die die Kraft hat, andere Menschen zu erreichen, fühle ich etwas weit Schöneres: Stolz. Aber ohne meine schwulen Idole wie Derek Jarman oder Neil Tennant wäre ich niemals so weit gekommen. Ich wuchs in den Neunzigern noch im langen Schatten der AIDS-Epidemie auf, Homosexualität war damals oft noch ein Thema, über das höchstens getuschelt wurde. Für mich als schwulen Teenager waren offen schwule Künstler wie Elton John und Neil Tennant von den Pet Shop Boys von grosser Bedeutung. Es wäre wundervoll, wenn ich heute eine ähnliche Inspiration für junge Menschen sein könnte.

Wie bist du überhaupt mit der schwulen Geheimsprache Polari in Kontakt gekommen?

Polari war zwischen den Dreissiger- und Siebzigerjahren eine Sprache der schwulen Subkultur, in ihr steckt alles Mögliche – Englisch, Italienisch, Jiddisch und einiges mehr. Dann starb sie allmählich aus, weil Geheimcodes nicht mehr notwendig waren, und dennoch finde ich diese Sprache bis heute absolut faszinierend.

Kanntest du Polari denn?

Nicht sehr gut. Aber ich habe direkt die Magie dieser Sprache erkannt. Zudem ist Polari ein schönes Wort, es erinnert an den Nordstern Polaris. Und weil es heute fast niemand mehr spricht, hat es etwas Geheimnisvolles und sehr Anziehendes bekommen.

«Polari» ist zudem das erste Album, das du unter deinem eigenen Namen veröffentlichst. Wie besonders fühlt sich das an?

Sehr besonders. Schon das letzte Years-&-Years-Album war ja praktisch ein Soloprojekt, aber sozusagen noch ein inoffizielles. Spätestens seit dem ESC hat es für mich etwas Selbstverständliches, als Olly Alexander aufzutreten.

Wie erinnerst du dich an deinen ESC-Auftritt mit dem Song «Dizzy»?

Das war so eine wilde Zeit. Eine echte Achterbahnfahrt. «Dizzy» ist übrigens auch ein Wort, das es in Polari gibt, deshalb gehört das Stück unbedingt auf die Platte. Ich habe mir neulich nach Monaten mal wieder meinen Auftritt angeschaut – ich fand mich immer noch ziemlich cool (lacht). Auch wenn ich im Wettbewerb nicht wirklich weit vorne gelandet bin.

Hat dich das geärgert?

Ach, naja, ich hätte mir mehr Punkte gewünscht. Trotzdem war es das wert. Der ESC war eine Erfahrung, die sich mit nichts in der Welt vergleichen lässt.

In diesem Jahr findet der ESC in Basel statt. Wirst du die Show anschauen?

Ganz bestimmt! Ich liebe Nemo. Ich habe es Nemo wirklich von Herzen gegönnt.

Wie gut kennt ihr euch?

Wir schreiben uns ab und zu Nachrichten. Wir sind definitiv Freunde. Übrigens machte Nemo so ganz nebenbei eine originelle Version meines Songs. Sie war genial!

Wirst du Nemo zu deinem Konzert in Zürich Ende März einladen?

Aber sicher doch (lacht). Ich freue mich unheimlich auf diese Tournee. Und in der Schweiz habe ich schon viel zu lange nicht mehr gespielt. Ich verspreche allen, die kommen, einen grossartigen Abend.