Vom schwulen Widerstandskämpfer Hans Scholl bis zum schwulen Literaturwissenschaftler Hans Mayer

Queer durch Tübingen

Eine Ausstellung zum queeren Leben in der deutschen Universitätsstadt zeigt interessante Gay-Biographien – vom Widerstandskämpfer Hans Scholl bis zum Literaturwissenschaftler Hans Mayer. 

Von Dieter Osswald

«Queer durch Tübingen» heisst eine Ausstellung in der Unistadt. Und sie schildert oftmals überraschende Geschichten vom Leben, Lieben und Kämpfen. Es geht um einen schwulen König, um Coole Kroymann. Und das Geheimnis vom 17. Mai. Falls du die ambitionierte Ausstellung nicht besuchen kannst: Dazu erschien ein aufwändiger Katalog.

Codewort 17. Mai

«Der Blick auf Homos, einst und jetzt», so überschreibt Kulturwissenschafts-Ikone Hermann Bausinger, einer der cleversten Köpfe der Tübinger Universität, sein Kapitel im Begleitkatalog zur Ausstellung «Queer durch Tübingen».

In bewährter Lässigkeit berichtet der 95-jährige Volkskundler von einer Jugenderinnerung an den schönen  Tennisspieler Gottfried von Cramm, der ganz plötzlich von der Bildfläche verschwunden war. Als die Mutter nach dem Grund des Verschwindens fragte, antwortete der Vater geheimnisvoll «17. Mai»: 17.05 war der gebräuchliche Deckname für den von den Nazis verschärften § 175, mit dem Schwule verfolgt wurden.

Weitverbreitete Homofeindlichkeit

«Die Diskriminierung von Homosexualität war traditionell gefestigt, staatlich verordnet, rechtlich beglaubigt in verschiedenen Bestimmungen, fest verankert in kirchlichen Geboten und allgemeinen moralischen Grundsätzen», bilanziert der Kulturwissenschaftler die Lage im Nachkriegsdeutschland.

Noch viel weiter zurück, bis in das 16. Jahrhundert, geht die Bestandsaufnahme des Tübinger Stadtmuseums in Kooperation mit dem Stadtarchiv. Auslöser für das Forschungsprojekt war eine Stadtführung im Jahr 2017, die sich auf Spurensuche nach queerem Leben begab.

Die Resonanz geriet derart gross, dass Stadtarchivar Udo Rauch sowie der Berliner Historiker Karl-Heinz Steinle sich intensiver mit dem Thema befassten. Queering the Archives nennt sich jener neue Ansatz, bei dem Aktenbestände gezielt nach Inhalten mit schwulen und lesbischen Bezügen durchforstet werden. Zudem geraten Fotos, Briefe oder andere Erinnerungsstücke von Zeitzeugen samt Interviews zu wichtigen Quellen.

Mit Ausstellungsmacherin Evamarie Blattner vom Tübinger Stadtmuseum fand sich eine erfahrende Wissenschaftlerin für die publikumswirksame Umsetzung der Forschungsergebnisse – inklusive Bühnen-Outfit von Fräulein Wommy Wonder, einst Theologie-Student in Tübingen. „Im Zentrum der Ausstellung stehen 24 Lebensgeschichten aus Tübingen und der Region. Sie verkörpern einzelne Schicksale, heben gleichzeitig aber auch Meilensteine queere Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte hervor. Sie zeigen Aspekte queeren Lebens unter Verfolgung, Repression, medizinischen Möglichkeiten, juristischen Lockerungen und Emanzipation. Eingebettet sind diese Tübinger Biografien in den grösseren historischen Zusammenhang“, heisst es zur Begrüssung auf einer Texttafel. Danach werden die Texte bewusst weniger. Gross aufgezogene Fotos auf rund 20 Stelen bestimmen den Raum. Man schaut sie an auf Augenhöhe – und blickt bisweilen auf jene Person gegenüber, die sich gerade die Rückseite ansieht.

Der Kronprinz und sein Lover

 

Schwul und unglücklich verheiratet: Kronprinz Karl von Württemberg.

Da wäre zum Auftakt Kronprinz Karl von Württemberg, Gründer der Universität und Verfasser leidenschaftlicher Liebesbriefe, etwa an seinen 22-jährigen Schwarm Adolf: «Wenn Sie mich lieben, so geben Sie mir morgen den wahren Beweis damit, dass Sie mich nicht als Prinz behandeln. Das können Sie und dürfen Sie mit einem Menschen, der Sie liebt, wie ich Sie liebe.»

Ähnlich intensiv die Beziehung von Jósef und Erich: Der eine ein polnischer Zwangsarbeiter, der andere ein Tübinger Kaufmann. Das Foto des schlafenden Liebhabers wurde zum Beweisstück im Prozess, der mit langen Gefängnisstrafen endete. Im Tübinger Stadtmuseum gerät das Bild des träumenden Jósef zum stillen Denkmal.Ein schwuler oder bisexueller Held wäre in der Nachkriegszeit nicht vermittelbar gewesen

Der schwule Kämpfer gegen die Nazis

Gleich daneben Hans Scholl, der mit seiner Schwester Sophie die «Weisse Rose» gründete. Er entdeckte in Tübingen seine Liebe zu Männern, was lange Zeit verborgen blieb. «Futterknecht ist nachts neben mir im Stroh gelegen. Meistens war es so, dass wir gegenseitig uns mit den Armen umschlungen hielten», schreibt der junge Scholl einmal. «Die Familie Scholl hat die Homosexualität von Hans bewusst verschwiegen und die einschlägigen Quellen der Forschung vorenthalten», bilanziert der Katalog. «Ein schwuler oder bisexueller Held wäre in der Nachkriegszeit nicht vermittelbar gewesen. Licht ins Dunkel brachten erst Veröffentlichungen ab 2006».

Neben Prominenten stellt die Ausstellung auch unbekannte Zeitgenossen vor wie den trans* Schüler Valentin Floss (Bild Markus Maurer).

26 Biografien blättert die Ausstellung auf, Prominente wie Hans Mayer, Fritz Bauer oder Maren Kroymann. Und eben auch  ganz normale Menschen wie Valentin Floss, der schon als Schüler offen transsexuell lebt. Oder der Poldi, der als Lehrling beim Stadtplanungsamt vom OB Hans Gmelin höchstpersönlich denunziert wurde. Jahrzehnte später wurde Poldi rehabilitiert, die Tochter des OB, Justizministerin Herta Däubler-Gmelin, entschuldigte sich im Namen der Familie bei ihm. Mehr noch, wie der Katalog weiss: «Eine Abordnung der Tübinger Polizei besuchte ihn in seiner Weinstube, entschuldigte sich für das Verhalten der Polizeibeamten bei der Verhaftung und dem Verhör und schenkten ihm einen Polizei-Teddybär».  

Bewegende Schicksale. Souverän in historische Zusammenhänge gestellt. Eindrucksvoll präsentiert, das gilt für Ausstellung und Katalog gleichermassen. Durchaus eine Pionierleistung, die Nachahmer in anderen Städten verdient hätte.

360 Seiten umfasst der Katalog. Er kann online im Museumsshop bestellt werden. Beim Preis hält man sich mit stolzem Trotz an den 17. Mai, also: 17,50 Euro.

Ausstellung «Queer durch Tübingen» bis 13. März 2022 im Stadtmuseum Tübingen. 

Hier geht’s zur Ausstellungs-Website