Schwarz-Weiss-Denken

Psychologe Tim Wiesendanger über unheimliche Verführer.

Hallo Tim
Mein Freund sagt oft, ich teile alles in Schwarz oder Weiss ein. Stimmt, Zwischenstufen sind mir fremd. Aber die gibt es auch kaum. Entweder jemand ist gut oder schlecht. Oder mache ich da einen Denkfehler? Frank (48)

Hallo Frank
Ja, einen grossen sogar! Mit einer Einteilung in Schwarz oder Weiss wirst du der Welt nicht gerecht und leistest dir damit letztlich selbst einen Bärendienst.

Doch bist du damit bei weitem nicht alleine. Sonst hätten etwa Politiker, welche die Welt in Gut und Böse einteilen, keine Chance, gewählt zu werden. Doch die vergangene US-Präsidentschaftswahl beweist, dass eben genau dies bestens funktioniert. Und auch in Europa sind Populisten im Vormarsch, derzeit vor allem von rechts.

STEINREICHE VERFÜHRER – Menschen, die sich – ob berechtigt oder nicht – als effektive oder zumindest potentielle Opfer oder Verlierer der Gesellschaft sehen, finden bei ihnen vermeintlichen Halt und die Illusion, so an der Macht teilhaben zu können. Vor allem selbstunsichere Wähler fallen gerne auf nationalistisch-konservative Versprechen von Verführern herein, die sich als Verfechter von Interessen kleiner Leute vermarkten, selbst wenn sie über ein Millionen-, ja Milliardenvermögen verfügen.

«Öffne deine Augen und vor allem dein Herz»

Tiefenpsychologisch betrachtet handelt es sich bei Verführern wie Wählern tatsächlich um Opfer. Schaut man ihre Lebensgeschichten nicht nur oberflächlich an, hatten sie als Kinder und Jugendliche kaum eine Chance, ihr wahres Selbst zu entwickeln. Vielmehr lernten sie, sich den Leitlinien ihrer Bezugspersonen unterzuordnen. Ganz egal, ob jemand im materiellen Sinne arm, mittelständisch oder mit dem goldenen Löffel im Mund aufgewachsen ist, sein Selbstverständnis wird er stets von dem ableiten, was er hat und nicht von dem, wer er ist.

IN DEN FARBEN DES REGENBOGENS – Doch damit betritt er auf der Seelenebene dünnes Eis. Mag sein gegen aussen gezeigtes Selbstbewusstsein noch so grossartig scheinen, sein «inneres Kind» dürstet. Und es verbündet sich mit anderen, deren Innenwelt ebenso aussieht. Doch Natur-, Sozial- wie Geisteswissenschaften beweisen, dass fast alle Phänomene dieser Welt sich zwischen den Polen manifestieren und sich das Leben somit vorwiegend in den Regenbogenfarben und nicht in Schwarz oder Weiss zeigt.

Dies nicht wahrhaben zu können oder zu wollen deutet darauf hin, dass auf der Ebene der seelischen Entwicklung einiges unter die Räder kam. Für die Welt bedeuten rechtslastige Zeiten Rückschritte in ihrer humanistischen Entwicklung, einhergehend mit erhöhter Kriegsgefahr. Für das Individuum – gerade für uns schwule Männer – kann es hoffentlich eine Chance sein, ebendies zu erkennen – im Alltäglichen wie in grossen Zusammenhängen. In diesem Sinne, Frank: öffne deine Augen – und vor allem dein Herz!

Tim-K-Wiesendanger

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Bild: Amir Kaljikovic